Und dennoch ist es Liebe
forderte sie mich auf.
Ich seufzte und versuchte, in Worte zu fassen, was ich sonst zeichnete. »Er ist sehr groß, und sein Haar ist so dunkel wie Donegals Mähne. Seine Augen sind von der gleichen Farbe wie deine und meine …«
»Nein, nein, nein«, unterbrach meine Mutter mich. »Sag mir, wie Nicholas ist.«
Ich schloss die Augen, doch mir wollte nichts einfallen. Es war, als liege mein Leben mit ihm im Schatten, und obwohl wir seit acht Jahren zusammen waren, konnte ich den Klang seiner Stimme kaum hören und seine Berührung kaum spüren. Ich versuchte, mir seine Hände vorzustellen, seine langen, schmalen Chirurgenfinger, aber ich sah noch nicht einmal, wie er das Stethoskop damit hielt. Ich spürte ein Loch in meiner Brust, wo diese Erinnerungen eigentlich hätten sein sollen, aber es war, als hätte ich vor langer, langer Zeit jemanden geheiratet und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. »Ich weiß eigentlich nicht, wie Nicholas so ist«, sagte ich. Ich fühlte den Blick meiner Mutter auf mir ruhen und versuchte zu erklären: »Er ist einfach ein anderer Mann geworden. Er arbeitet extrem hart, und das ist wichtig, weißt du, aber deswegen sehe ich ihn nicht allzu oft. Und wenn ich ihn sehe, zeige ich mich meistens nicht von meiner besten Seite. Wenn ich bei einem Wohltätigkeitsdinner am Tisch hocke, sitzt er neben einem Radcliffe-Mädchen und stellt Vergleiche an, oder Max hat mich die halbe Nacht wachgehalten, und wenn Nicholas dann nach Hause kommt, sehe ich aus wie die Wilde Frau von Borneo.«
»Und deshalb bist du gegangen«, beendete meine Mutter den Gedankengang für mich.
Ich setzte mich abrupt auf. »Deshalb bin ich nicht gegangen«, widersprach ich ihr. »Ich bin deinetwegen gegangen.«
Es war die Frage aller Fragen: Was war zuerst dagewesen? Das Huhn oder das Ei? Ich war gegangen, weil ich Zeit brauchte, um wieder zu Atem zu kommen und mich neu zu orientieren, damit ich wieder von vorn anfangen konnte. Aber offensichtlich hatte ich diese Neigung geerbt. Hatte ich nicht die ganze Zeit über gewusst, dass ich wie meine Mutter sein würde, wenn ich erwachsen war? Hatte ich mir nicht genau darüber den Kopf zerbrochen, als ich mit Max schwanger war … und mit dem anderen Baby? Ich glaubte immer noch, dass all das miteinander zusammenhing. Ich konnte ehrlich sagen, dass meine Mutter der Grund war, dass ich weggelaufen bin, aber ich war mir nicht sicher, ob sie auch der Grund für all das andere war, das ich getan hatte.
Meine Mutter kroch in ihren Schlafsack. »Selbst wenn das wahr wäre«, sagte sie, »hättest du warten sollen, bis Max älter ist.«
Ich drehte mich von ihr weg. Der Duft der Pinien auf dem Hügel hinter uns war so überwältigend, dass mir plötzlich schwindelig wurde. »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen«, murmelte ich.
Von hinter mir kam die Stimme meiner Mutter. »Als du geboren wurdest, hatte man Männern gerade erst erlaubt, in den Kreißsaal zu kommen, aber dein Vater wollte nichts damit zu tun haben. Stattdessen wollte er, dass ich dich daheim zur Welt bringe, wie das auch seine Mutter getan hat, aber das wollte ich auf gar keinen Fall. Also hat er mich ins Krankenhaus gefahren, und ich habe ihn angefleht, bei mir zu bleiben. Ich habe ihm gesagt, ohne ihn würde ich das nicht überstehen. Zwölf Stunden lang war ich vollkommen allein, bis du endlich beschlossen hast, zu erscheinen. Und dann dauerte es noch eine weitere Stunde, bis sie Patrick zu uns gelassen haben. So lange dauerte es nämlich, bis die Krankenschwestern mich gekämmt und geschminkt hatten, damit es so aussah, als hätte ich in den vergangenen Stunden nichts getan.« Meine Mutter war mir nun so nah, dass ich ihren Atem am Ohr spürte. »Als dein Vater reinkam und dich sah, da hat er dir die Wange gestreichelt und gesagt: ›Nun, May, da du sie jetzt hast, wo ist da das Opfer?‹ Und weißt du, was ich ihm darauf geantwortet habe? Ich habe ihm in die Augen geschaut und gesagt: ›Ich. Ich bin das Opfer.‹«
Mir zog sich das Herz zusammen, als ich mich daran erinnerte, wie ich Max angestarrt und mich gefragt hatte, wie er aus mir hatte herauskommen können und was ich tun müsse, damit er wieder hineingehen würde. »Du hast mich abgelehnt«, sagte ich.
»Ich hatte Angst vor dir«, entgegnete meine Mutter. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn du mich nicht gemocht hättest.«
Ich erinnerte mich an das Jahr, in dem ich in die Vorschulbibelstunde gekommen war. Meine
Weitere Kostenlose Bücher