Und dennoch ist es Liebe
benommen sein. Am Nachmittag schaue ich aber noch mal nach Ihnen.«
»Dr. Prescott«, sagt der Patient, »für den Fall, dass ich morgen zu zugedröhnt bin … Danke.«
Ich höre nicht, was Nicholas darauf antwortet, und ich habe auch keine Zeit, mich rechtzeitig zurückzuziehen. Er rennt in mich hinein, entschuldigt sich und erkennt dann, mit wem er gerade zusammengestoßen ist. Er kneift die Augen zusammen, packt mich am Oberarm und zerrt mich den Flur hinunter. »Julie«, sagt er zu der Assistenzärztin, mit der er im Zimmer war, »ich sehe Sie dann nach der Visite.« Dann flucht er zwischen den Zähnen hindurch und schleppt mich in einen kleinen Raum, wo die Patienten sich Eiswürfel und Orangensaft holen können. »Was zum Teufel machst du hier?«
Mir verschlägt es den Atem, und ich kann ihm beim besten Willen nicht darauf antworten. Nicholas drückt meinen Arm so fest, dass ich weiß, dass ein blauer Fleck zurückbleiben wird. »Ich … Ich …«, stammele ich.
» Was? « Nicholas kocht vor Wut.
»Ich wollte dich nicht stören«, sage ich. »Ich will nur mit dir reden.« Ich beginne zu zittern und frage mich, was ich wohl sagen werde, sollte Nicholas mein Angebot annehmen.
»Wenn du nicht sofort von hier verschwindest«, sagt Nicholas, »lasse ich dir vom Sicherheitsdienst in den Arsch treten.« Er lässt meinen Arm los, als hätte er eine Aussätzige berührt. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht mehr zurückkommen sollst«, sagt er. »Was muss ich denn noch tun, damit du begreifst, dass ich das ernst meine?«
Ich hebe das Kinn und tue so, als hätte ich nichts von dem gehört, was er gesagt hat. »Ich gratuliere«, sage ich, »zu deiner Beförderung.«
Nicholas starrt mich an. »Du bist verrückt«, sagt er, und dann geht er den Flur hinunter, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Ich schaue ihm hinterher, bis sein weißer Kittel in der Ferne mit der Wand verschmilzt, und ich frage mich, warum er nicht erkennen kann, wie sehr ich seinen Patienten ähnele. Schließlich bewahrt er sie auch davor, an einem gebrochenen Herzen zu sterben.
*
Sieben Minuten lang sitze ich im Wagen vor dem großen Herrenhaus der Prescotts in Brookline. Mein Atem wärmt das Innere des Wagens, und ich überlege, ob es wohl auch eine Verhaltensregel dafür gibt, wie man richtig um Gnade fleht. Getrieben vom Gedanken an Max schleppe ich mich schließlich den Schieferweg hinauf und klopfe mit dem schweren Messingklopfer an die Tür. Ich erwarte Imelda, das kleine, dickliche Hausmädchen, doch stattdessen öffnet Astrid höchstpersönlich die Tür … mit meinem Sohn.
Sofort erschreckt mich der Kontrast zwischen Astrid und meiner eigenen Mutter. Es sind die einfachen Dinge: Astrids Seidenkleid und Perlen im Vergleich zu den Flanellhemden und Cowboyhosen meiner Mutter; Astrids antike Einrichtung im Vergleich zu dem Stall in North Carolina. Und Astrid lebt von ihrem Ruhm, während meine Mutter alles tut, um ihre Identität geheim zu halten. Doch andererseits sind sie beide starke Frauen. Beide sind sie über die Maßen stolz. Sie haben beide gegen das System gekämpft, das ihnen Fesseln angelegt hat, und sich neu erschaffen. Und so wie es aussieht, gibt auch Astrid – wie meine Mutter – ihre Fehler inzwischen zu.
Astrid sagt kein Wort. Sie schaut mich an … Nein, sie schaut in mich hinein, als überlege sie, wie sie mich am besten für ein Foto ausleuchten solle. Max sitzt auf ihrer Hüfte. Er schaut mich mit Augen an, die so blau sind, dass man die Farbe nach ihnen benannt haben muss. Max ist verschwitzt, sein Haar klebt an seinem Kopf, und er hat den Abdruck einer Decke auf der Wange.
Max hat sich in nur drei Monaten so sehr verändert.
Max ist das Ebenbild von Nicholas.
Er geht davon aus, dass ich eine Fremde bin, und er vergräbt sein Gesicht in Astrids Bluse und reibt sich die Nase am Saum.
Astrid macht keinerlei Anstalten, ihn mir zu geben, aber sie schlägt mir auch nicht die Türe vor der Nase zu. Um sicherzugehen, mache ich einen winzigen Schritt nach vorne. »Astrid«, sage ich und schüttele dann den Kopf. » Mom. «
Als hätte dieses Wort eine Erinnerung wachgerufen – was natürlich unmöglich ist –, hebt Max das Gesicht. Er legt den Kopf auf die Seite, wie seine Großmutter es auch getan hat, und streckt dann die geballte Faust aus. »Mama«, sagt er, und die Finger der Faust öffnen sich wie eine Blume und legen sich auf meine Wange.
Seine Berührung … Es ist nicht, was ich erwartet, nicht, was
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