Und dennoch ist es Liebe
um hineinzugelangen. »Und sie war eine gute Künstlerin«, sage ich so sorglos, wie ich kann, und denke an die Pferde an der Decke in Chicago und dann in North Carolina. »Aber vor allem hatte es ihr das Schreiben angetan.«
Ruhelos huscht mein Stift über ein neues Blatt Papier, und da ich es nicht wage, Astrid in die Augen zu sehen, erzähle ich ihr die Wahrheit. Die Worte kommen einfach so, und erneut rieche ich die Filzstifte in meiner winzigen Hand und spüre die Hände meiner Mutter, die mich auf dem Hocker festhalten. Und ich fühle den Körper meiner Mutter neben meinem, während wir uns die zügellosen Pferde ansehen. Ich kann mich noch gut an die Freiheit erinnern, zu glauben, ja zu wissen, dass sie auch noch am nächsten Tag da sein würde und am darauffolgenden.
»Ich wünschte, meine Mutter wäre da gewesen, um mir das Zeichnen beizubringen«, sage ich und schweige dann. Mein Stift fliegt nicht mehr über das Papier, und als ich es anstarre, legt Astrid ihre Hand auf meine. Noch während ich mich frage, warum ich ihr das erzählt habe, höre ich mich weitersprechen: »Nicholas hat großes Glück gehabt. Ich wünschte, jemand wie du wäre da gewesen, als ich aufgewachsen bin.«
»Dann hat Nicholas gleich doppelt Glück gehabt.« Astrid setzt sich neben mich ins Gras und legt mir den Arm um die Schultern. Es fühlt sich seltsam an – nicht wie die Umarmung meiner Mutter, in die ich mich am Ende des Sommers so wunderbar geschmiegt hatte. Trotzdem, bevor ich michs versehe, lehne ich mich an Astrid. Sie seufzt in mein Haar. »Sie hatte keine Wahl, weißt du?« Ich schließe die Augen und zucke mit den Schultern, doch Astrid will es nicht darauf beruhen lassen. »Sie ist nicht anders als ich«, sagt sie und zögert dann. »Oder als du.«
Instinktiv löse ich mich wieder von ihr und bringe eine vernünftige Distanz zwischen uns. Ich öffne den Mund, um ihr zu widersprechen, doch irgendetwas hält mich davon ab. Astrid, meine Mutter, ich. Wie in einer Collage stelle ich mir grinsende Reihen von Astrids Kontaktabzügen vor: die dunklen Hufabdrücke auf den Weiden meiner Mutter; die lange Reihe von Herrenhemden, die ich an dem Tag, als ich wegging, aus dem Wagen geworfen habe … All die Dinge, die wir getan haben, weil wir sie tun mussten . All die Dinge, die wir getan haben, weil wir das Recht dazu gehabt haben. Und wir hinterließen überall Spuren – Spuren, die entweder andere zu uns lockten oder den Weg markierten, den wir eines Tages wieder zurückgehen würden.
Ich atme tief durch. Gott, so entspannt war ich schon seit Tagen nicht mehr. Um Nicholas zurückzugewinnen, kämpfe ich gegen eine Macht an, die größer ist als ich selbst, doch allmählich beginne ich zu verstehen, dass auch ich Teil einer solchen Macht bin. Und das heißt, dass ich vielleicht doch eine Chance habe.
Ich lächele Astrid an, greife wieder zum Stift und zeichne rasch ein Bild der verdrehten Zweige über ihrem Kopf. Sie schaut auf den Block, dann in den Baum, und schließlich nickt sie. »Kannst du mich auch zeichnen?«, fragt sie und schmeißt sich in Pose.
Ich reiße das Blatt ab und beginne, Astrids Gesicht zu zeichnen und ihr mit Gold durchzogenes graues Haar. Mit ihrer Haltung und ihrem Ausdruck hätte sie auch eine Königin sein können.
Die Schatten des Pfirsichbaums färben ihr Gesicht in einem seltsamen Gittermuster, das mich an das Gitter im Beichtstuhl von Saint Christopher erinnert, und die fallenden Blätter tanzen um meinen Block. Als ich fertig bin, tue ich so, als würde ich noch weitermachen, damit ich mir erst einmal anschauen kann, was ich wirklich gezeichnet habe, bevor Astrid einen Blick draufwirft.
In jeden Schatten auf ihrem Gesicht habe ich eine andere Frau gezeichnet. Die eine scheint Afrikanerin zu sein. Sie trägt einen dicken Turban auf dem Kopf und schwere Goldohrringe. Eine ist ein zerlumptes Mädchen, nicht älter als zwölf, das sich die Hand auf ihren schwangeren Bauch hält. Eine ist meine Mutter, und eine bin ich selbst.
»Bemerkenswert«, sagt Astrid und berührt vorsichtig ihr Bild. »Jetzt sehe ich, warum Nicholas so beeindruckt war.« Sie legt den Kopf auf die Seite. »Kannst du auch aus dem Gedächtnis zeichnen?« Ich nicke. »Dann zeichne ein Bild von dir.«
Ich habe auch früher schon Selbstporträts gezeichnet, aber nie auf Befehl. Ich weiß nicht, ob ich das kann, und das sage ich Astrid auch. »Solange du es nicht versuchst, kannst du es auch nicht wissen«, erwidert Astrid,
Weitere Kostenlose Bücher