Und dennoch ist es Liebe
und pflichtbewusst blättere ich zu einem leeren Blatt. Ich beginne mit meinem Hals und arbeite mich hoch. Als ich am Kiefer ankomme, halte ich kurz inne. Es ist alles falsch. Ich reiße das Blatt ab und fange noch mal von vorne an, diesmal oben am Haaransatz. Und auch das funktioniert nicht, und ich muss wieder neu anfangen. Das mache ich sieben Mal, und dabei wird jede Zeichnung vollständiger als die vorherige. Schließlich lege ich den Stift beiseite und reibe mir die Augen. »Vielleicht ein andermal«, sage ich.
Doch Astrid schaut sich die weggeworfenen Zeichnungen an. »Das hast du besser gemacht, als du glaubst«, sagt sie und hält sie mir hin. »Schau.« Ich blättere durch die Bilder und bin erschrocken, dass ich das nicht schon früher gesehen habe. Auf jedem einzelnen Bild, selbst auf denen, die nur ein paar Linien enthalten, habe ich mich nicht selbst, sondern Nicholas gezeichnet.
K APITEL 38
P AIGE
Die letzten drei Tage war Nicholas das Gesprächsthema im Krankenhaus, und das nur meinetwegen. Als er am Morgen eintrifft, helfe ich dabei, seinen Patienten für die Operation vorzubereiten. Dann sitze ich in meiner pinkfarbenen Uniform auf dem Boden vor seinem Büro und zeichne ein Porträt der Person, die er gerade operiert. Es sind simple Zeichnungen, für die ich nur wenige Minuten brauche. Jede zeigt den Patienten weit weg vom Krankenhaus und in der Blüte seines Lebens. Ich habe Mrs. Comazzi als junges Mädchen in einer Tanzhalle gezeichnet. Mr. Goldberg habe ich als Gangster im Streifenanzug abgebildet, und Mr. Allen als Ben Hur, kräftig und auf einem Streitwagen. Und all diese Bilder klebe ich an Nicholas’ Tür, für gewöhnlich mit einem zweiten Bild von ihm selbst.
Zuerst habe ich Nicholas gezeichnet, wie er im Krankenhaus ist, am Telefon oder wie er die Entlassungspapiere eines Patienten unterzeichnet. Doch dann habe ich begonnen, ihn so zu zeichnen, wie ich ihn in Erinnerung haben will: singend an der Wiege; wie er mir beibringt, einen Baseball zu werfen, und wie er mich auf dem Schwanenboot in aller Öffentlichkeit küsst. Jeden Morgen gegen elf macht Nicholas das Gleiche. Er kommt in sein Büro zurück, flucht an der Tür und reißt die Bilder ab. Das von sich wirft er entweder in den Mülleimer oder stopft es in die oberste Schreibtischschublade, doch das andere, das von dem Patienten, nimmt er zur postoperativen Visite mit. Ich bot Mrs. Comazzi gerade eine Zeitschrift an, als er ihr das Bild gab. »Oh, mein Gott«, rief sie. »Schauen Sie mich an. Schauen Sie mich nur an! « Und Nicholas konnte nicht anders, als zu lächeln.
Gerüchte verbreiten sich im Mass General schnell, und jeder weiß, wer ich bin und wann ich meine Zeichnungen aufhänge. Um Viertel vor elf, kurz bevor Nicholas kommt, versammeln sich die Leute. Die Schwestern kommen in ihrer Kaffeepause rauf, um zu erraten, welchen Patienten ich gezeichnet habe. Dann machen sie Bemerkungen über den Dr. Prescott, den ich zeichne und den sie nie zu sehen bekommen. »Joi!«, hörte ich einmal eine von ihnen sagen. »Ich hätte nie gedacht, dass er auch normale Kleidung besitzt.«
Ich höre Nicholas’ Schritte im Flur, schnell und abgehackt. Er trägt noch immer seine OP-Kleidung, was bedeuten kann, dass etwas schiefgelaufen ist. Rasch mache ich den Weg frei, werde jedoch von einer unbekannten Stimme aufgehalten. »Nicholas«, sagt der Mann.
Nicholas bleibt stehen, die Hand auf dem Türknauf. »Elliot«, sagt er. Es ist mehr ein Seufzen als ein Wort. »Schauen Sie«, sagt er, »es war ein ziemlich übler Morgen. Vielleicht können wir ja später miteinander reden.«
Elliot schüttelt den Kopf und hebt die Hand. »Ich bin nicht Ihretwegen hier. Ich bin gekommen, um zu sehen, was es mit diesen Kunstwerken auf sich hat. Ihre Tür ist offenbar zur Krankenhausgalerie mutiert.« Er schaut zu mir herunter und strahlt mich an. »Der Gerüchteküche nach ist unsere geheimnisvolle Künstlerin Ihre Frau.«
Nicholas nimmt sich die blaue Haube ab, lehnt sich an die Tür und schließt die Augen. »Paige, Elliot Saget. Elliot, Paige. Meine Frau.« Er atmet tief durch. »Im Augenblick noch.«
Wenn die Erinnerung mich nicht trügt, ist Elliot Saget der Chefarzt der Chirurgie. Rasch biete ich ihm meine Hand an. »Es ist mir ein Vergnügen«, sage ich und lächele.
Elliot stößt Nicholas aus dem Weg und schaut sich die Bilder an. Ich habe Mr. Olsen gezeichnet, der heute Morgen operiert wurde. Neben ihm hängt ein Bild von Nicholas, wie er
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