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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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auf die weiße Badematte. Ich schlief ein, und als ich wieder aufwachte, rief ich im Mercy an und meldete mich krank. Eigentlich wäre ich auch nicht zu Dr. Thayer gegangen, aber ich hatte da so eine Ahnung. Ich wartete, bis etwas weniger Patienten da waren, dann verließ ich den Empfang und stellte mich neben Dr. Thayer an den Tisch, auf dem wir die Urinproben und die Fragebögen zur Brustkrebsvorsorge sammelten. Dr. Thayer schaute mich an, als wisse sie bereits, worum es ging. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, sagte ich.
*
    So hätte es nicht laufen sollen. Nicholas und ich hatten das eine Million Mal diskutiert. Ich würde uns finanzieren, bis Nicholas’ Gehalt ausreichte, um die Kredite zurückzuzahlen, dann würde ich an der Reihe sein. Ich würde auf die Kunsthochschule gehen, und sobald ich meinen Abschluss hatte, würden wir eine Familie gründen.
    Es hätte nicht passieren dürfen, denn wir waren vorsichtig gewesen, aber Dr. Thayer zuckte nur mit den Schultern und erklärte, nichts sei vollkommen sicher. »Freuen Sie sich doch«, sagte sie. »Wenigstens sind Sie verheiratet.«
    Das brachte alles wieder zurück. Während ich langsam durch den Verkehr in Cambridge fuhr, fragte ich mich, wie ich die Zeichen hatte übersehen können: die geschwollenen Brüste, die Müdigkeit … Immerhin hatte ich das ja schon einmal durchgemacht. Damals war ich nicht bereit dafür gewesen, und egal, was Dr. Thayer auch sagte, ich wusste, dass ich das auch jetzt nicht war.
    Mir lief ein Schauder über den Rücken. Ich würde nie auf die Kunsthochschule gehen können. Es würde Jahre dauern, bis ich an der Reihe war, vielleicht würde es nie der Fall sein.
    Ich hatte die Entscheidung, auf die Kunsthochschule zu gehen, nach nur einem offiziellen Kunstkurs gefällt, den ich am Chicago Art Institute absolviert hatte. Ich war damals erst im neunten Schuljahr gewesen, und ich hatte die Kursteilnahme bei einem stadtweiten Schülerwettbewerb gewonnen. Figürliches Zeichnen war der einzige Kurs, der nach der Schule angeboten wurde, also nahm ich ihn. Am ersten Abend ließ der Lehrer, ein dürrer Mann mit lila Brille, uns durch den Raum gehen und erzählen, wer wir waren und was uns hergeführt hatte. Ich hörte, wie die anderen erzählten, dass sie den Kurs genommen hatten, um sich Punkte fürs College zu verdienen oder ihr Portfolio auf den neuesten Stand zu bringen. Als ich an der Reihe war, sagte ich: »Ich bin Paige. Ich weiß nicht, wieso ich hier bin.«
    Das Modell an jenem Abend war ein Mann, und er kam in einem bedruckten Bademantel aus Satin. Eine Eisenstange diente ihm als Requisite. Als der Lehrer nickte, stieg der Mann auf eine Plattform und schüttelte die Robe ab, als sei das völlig normal für ihn. Er drehte und wand sich und nahm die Eisenstange so, dass er schließlich aussah, als würde er am Kreuz hängen. Es war der erste Mann, den ich vollkommen nackt gesehen habe.
    Während alle anderen zu zeichnen begannen, saß ich wie versteinert da. Ich war sicher, einen Fehler begangen zu haben, als ich mich für diesen Kurs eingeschrieben hatte. Ich fühlte den Blick des Modells auf mir, und da setzte ich den Conté-Stift an. Ich schaute zur Seite und zeichnete aus dem Gedächtnis: die verdrehten Schultern, die gestraffte Brust, der schlaffe Penis. Kurz vor Ende der Unterrichtsstunde kam der Lehrer zu mir. »Du hast etwas«, sagte er zu mir, und ich wollte ihm glauben.
    Für die letzte Stunde des Seminars kaufte ich ein Blatt feines, grau marmoriertes Papier im Kunstbedarf und hoffte, etwas zu zeichnen, das ich behalten wollte. Das Modell an diesem Tag war ein Mädchen, nicht älter als ich, doch ihre Augen waren müde und verschleiert. Sie war schwanger, und als sie sich auf die Seite legte, trat ihr Bauch deutlich hervor. Ich zeichnete sie wie wild. Mit einem weißen Conté simulierte ich das Studiolicht auf ihrem Haar und ihren Unterarmen. Ich hörte nicht auf, zeichnete sogar die zehnminütige Kaffeepause hindurch, obwohl das Modell da aufstand und sich streckte. Ich zeichnete einfach aus dem Gedächtnis weiter. Als ich fertig war, zeigte der Lehrer meine Zeichnung den anderen Schülern. Er deutete auf die straffen Hüften des Mädchens, die Wölbung der schweren Brüste und die Schatten zwischen ihren Beinen. Dann gab der Lehrer mir das Bild wieder zurück und sagte zu mir, ich solle einmal über die Kunsthochschule nachdenken. Ich rollte das Bild zusammen, lächelte schüchtern und ging.
    Ich habe die

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