Und dennoch ist es Liebe
»Wenn Sie keinen Hochstuhl für ihn haben, kann ich auch nichts essen«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe.«
»Ich kann ihn ja halten«, bot ich ihr spontan an.
»Wie bitte?«
»Ich habe gesagt, ich kann ihn ja halten«, wiederholte ich, »während Sie essen.«
Die Frau starrte mich an. Mir fiel auf, wie erschöpft sie aussah. Sie schien zu zittern, so als hätte sie schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr geschlafen. Mit ihren braunen Augen musterte sie mich von Kopf bis Fuß. »Das würden Sie wirklich tun?«, murmelte sie.
Ich brachte ihr einen Spinatauflauf und nahm vorsichtig das Kind auf meine Arme. Ich fühlte, wie Marvela mich von der Küche aus beobachtete. Das Baby machte sich steif und passte nicht auf meine Hüfte. Und es wand sich immer wieder, um nach meinem Haar zu grabschen. »Hey«, sagte ich, »nicht …«, doch der Junge lachte nur.
Er war schwer und irgendwie feucht, und er wand sich, bis ich ihn schließlich auf den Tresen setzte, damit er dort etwas krabbeln konnte. Dann warf er den Senfkrug um und zog sich den Senflöffel durch die Haare. Ich konnte ihn keine Sekunde aus den Augen lassen, und ich fragte mich, wie irgendjemand das vierundzwanzig Stunden am Tag aushalten konnte. Aber er roch nach Puder, und er mochte es, wenn ich ihn anschaute, und als seine Mutter ihn wieder holen kam, klammerte er sich an meinen Hals. Als die beiden wieder gingen, schaute ich ihnen hinterher, und ich staunte, wie viel die Frau tragen konnte. Und obwohl nichts passiert war, war ich froh, das Baby wieder los zu sein. Ich sah, wie die Frau die Straße hinunterging und dann nach links abbog. Auf der linken Seite trug sie auch das Baby, und so war es, als hätte dessen Gewicht sie hinübergezogen.
Marvela trat neben mich. »Und? Würdest du mir jetzt bitte mal sagen, was das sollte?«, fragte sie. »Oder muss ich dir die Würmer einzeln aus der Nase ziehen?«
Ich drehte mich zu ihr um. »Ich bin schwanger.«
Marvela riss die Augen auf. »Echt jetzt?«, sagte sie. »Scheiße.« Und dann schrie sie und fiel mir um den Hals.
Als ich ihre Umarmung nicht erwiderte, ließ sie mich wieder los. »Lass mich raten«, sagte sie. »Dir ist nicht gerade nach einem Freudentanz zumute.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das hätte nicht passieren dürfen«, erklärte ich. Ich erzählte ihr von meinem Plan, von unseren Krediten, von Nicholas’ Stationsarztstelle und dann vom College. Ich redete, bis die Sätze sich in meiner eigenen Muttersprache fremd anfühlten und die Worte wie Steine aus meinem Mund rollten.
Marvela lächelte sanft. »Gott, Mädchen«, sagte sie, »was läuft schon so, wie es laufen soll? Man plant das Leben nicht, man lebt es einfach.« Sie legte mir den Arm um die Schulter. »Wäre es in den letzten zehn Jahren so für mich gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe, dann würde ich jetzt Schokolade futtern, preisgekrönte Rosen züchten und in einem Palast mit einem mehr als gut aussehenden Mann wohnen.« Sie blickte aus dem Fenster und – so nahm ich an – in ihre Vergangenheit. Dann tätschelte sie mir den Arm und lachte. »Paige, Liebes«, sagte sie, »hätte ich an meinem großen Plan festgehalten, dann würde ich jetzt dein Leben leben.«
*
Lange Zeit saß ich einfach nur auf der Veranda und ignorierte die Nachbarn, die mich im Vorbeigehen anstarrten. Ich wusste nicht, wie man eine gute Mutter wurde. Ich hatte ja keine gehabt. Ich kannte gute Mütter nur aus dem Fernsehen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Bilder von Marion Cunningham und Laura Petrie. Was machten diese Frauen eigentlich den ganzen Tag?
Stunden später fuhr Nicholas in die Einfahrt, während ich an all die Dinge dachte, auf die ich keinen Zugriff hatte, die ich aber brauchte, um ein Kind großzuziehen. Ich konnte Dr. Thayer nicht die Krankengeschichte meiner Familie mütterlicherseits erzählen. Ich wusste nichts über meine Geburt. Und ich würde Nicholas nicht sagen, dass es schon vor diesem hier ein Baby gegeben hatte und dass ich jemand anderes gewesen war, bevor ich ihm gehörte.
Nicholas stieg aus dem Wagen, als er mich sah. Sein Körper machte sich zum Angriff bereit. Für ihn war unser Streit noch nicht beendet. Doch als er näher kam, erkannte er, dass mich die Kampfeslust verlassen hatte. Ich lehnte mich an den Pfosten der Veranda und wartete, bis Nicholas direkt vor mir stand. Er wirkte unglaublich groß. »Ich bin schwanger«, sagte ich und brach in Tränen aus.
Nicholas
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