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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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fühlen?«
    Sie nahm meine Hand und zog sie nach unten, doch ich riss sie wieder zurück. »Ich will, dass du aus mir rauskommst!«, schrie ich das Ungeborene an.
    Ich presste und presste, und sämtliches Blut in meinem Körper stieg mir ins Gesicht und brannte hinter meinen Augen und in meinen Wangen. Schließlich ließ ich mich wieder zurücksinken. »Ich kann nicht«, wimmerte ich. »Ich kann das wirklich nicht.«
    Nicholas beugte sich zu mir, um mir etwas zuzuflüstern, aber was ich hörte, war ein leises Gespräch zwischen Noreen und Dr. Thayer. Es ging um das Herbeirufen irgendeines Spezialteams. Das Baby käme nicht schnell genug, flüsterten sie einander zu. Dann erinnerte ich mich an die Bücher, die ich gelesen hatte, als ich zum ersten Mal schwanger gewesen war. Die Lunge! Die Lunge war erst am Ende des achten Monats voll entwickelt – frühestens!
    Selbst wenn mein Baby jetzt herauskommen sollte, würde es vielleicht nicht atmen können.
    »Noch einmal«, forderte Dr. Thayer mich auf, und ich rappelte mich wieder auf und presste mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand. Deutlich spürte ich, wie eine winzige, spitze Nase sich gegen mein Fleisch drückte. Mach, dass du da rauskommst , dachte ich, und Dr. Thayer lächelte mich an. »Wir haben den Kopf«, sagte sie.
    Danach kam alles ganz leicht: die Schultern, die dicke violette Nabelschnur, die ganze lange, dürre Kreatur, die heulend zwischen meinen Beinen lag. Obwohl ich im Vorfeld bereits gewusst hatte, dass es ein Junge werden würde, hatte ich bis zum letzten Augenblick gehofft, ein Mädchen zu bekommen. Aus irgendeinem Grund war es sogar jetzt noch ein Schock. Ich starrte den Jungen an und fragte mich, wie so ein großes Wesen überhaupt in mir Platz gehabt hatte. Die Ärzte nahmen ihn mir ab, und Nicholas, der einer von ihnen war, folgte ihnen.
    Es dauerte mindestens eine halbe Stunde, bis ich wieder Kontakt zu meinem Sohn hatte. Seine Lunge sei perfekt entwickelt, erklärte man mir. Er war dünn, aber gesund. Und er hatte die typischen Gesichtszüge eines Neugeborenen: ein plattes Gesicht wie ein Indianer, dunkles, drahtiges Haar und obsidianfarbene Augen. Die winzigen Zehen hatte er eingerollt. Und auf dem Bauch hatte er ein rotes Geburtsmal, das wie die Zahl 22 aussah. »Offenbar hat jemand ihn inspiziert und ihm einen Stempel aufgedrückt«, scherzte Nicholas.
    Nicholas küsste mich auf die Stirn, schaute mich mit großen Augen an und ließ mich bereuen, was ich vorhin zu ihm gesagt hatte. »Vier Stunden«, sagte er. »Wie rücksichtsvoll von dir, dass du schnell genug warst, damit ich noch rechtzeitig zur Morgenvisite komme.«
    »Den Gefallen habe ich dir doch gerne getan«, erwiderte ich.
    Nicholas berührte die offene Hand des Babys, und automatisch schlossen sich die Fingerchen. »Vier Stunden ist verdammt schnell fürs erste Mal«, bemerkte er.
    Rasch schluckte ich die Frage herunter, die mir unwillkürlich in den Sinn kam: War das wirklich mein erstes Mal? Doch als ich dann in das fordernde Gesicht meines Sohnes blickte, war mir das vollkommen egal.
    Neben mir füllte Dr. Thayer die Krankenakte aus. »Nachname: Prescott«, sagte sie. »Haben Sie sich auch schon einen Vornamen ausgesucht?«
    Ich dachte an meine Mutter, May O’Toole, und ich fragte mich, ob sie wohl fühlen konnte, dass sie Großmutter geworden war … wo auch immer sie sein mochte. Und ich fragte mich, ob das Baby ihre Augen haben würde, ihr Lächeln und ihre Traurigkeit.
    Ich schaute zu Nicholas. »Max, sein Name ist Max.«
*
    Nicholas fuhr zur Visite ins Mass General, und ich war mit dem Baby allein. Ich hielt Max unsicher in den Armen, während er schrie und um sich schlug. Ich fühlte mich innerlich wie zerschlagen. Ich konnte mich kaum bewegen, und ich fragte mich, ob ich im Augenblick wirklich das Beste für Max war.
    Als ich den Fernseher über dem Bett einschaltete, beruhigte Max sich. Gemeinsam hörten wir uns an, wie der Wind an den Mauern des Krankenhauses rüttelte, während der Reporter auf dem Bildschirm den Untergang der Welt beschrieb.
    Irgendwann schaute Max zu mir herauf, als kenne er mein Gesicht irgendwoher, könne es nur nicht einordnen. Ich sah ihn mir genau an: seinen faltigen Hals, die fleckigen Wangen und die noch so seltsam dunklen Augen. Ich wusste noch immer nicht, wie dieses Kind aus mir hatte kommen können. Und ich wartete nach wie vor auf jenes Gefühl von mütterlicher Liebe, das angeblich ganz von selbst kommen sollte. Aber ich sah

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