Und dennoch
Staates, weg von Denkverboten und Tabus – hin zur selbst verantworteten Erprobung neuer Formen des Lernens und Lebens in der Schule. Das wäre meine erste und wichtigste Konsequenz aus den PISA-Studien. Leider wird diese bildungspolitische Grundsatzdebatte von politisch Verantwortlichen bisher nicht oder nur äußerst verhalten geführt. Innerhalb vieler Schulen ist sie jedoch erfreulicherweise in Gang gekommen.
Es mag zwar bedauerlich sein, dass es erst des PISA-Schocks bedurfte, bevor die Bildungspolitik nach Jahrzehnten der Stagnation endlich wieder ein Thema, ein Politikum wurde. Aber jetzt besteht die Chance für einen überfälligen Aufbruch. Vor allem kommt es dabei darauf an, herauszufinden, wie individuelle, soziale und intellektuelle Entwicklungen bei möglichst vielen Kindern und Jugendlichen gefördert und altersgemäße Kompetenzen, Eigenständigkeit und Teamfähigkeit gestärkt werden
können. Wie trotz Ablenkung durch tagtägliche Reiz- und Informationsüberflutung neue Formen der Wissensvermittlung zur Konzentration auf selbstständige (Lern-)Interessen und (Lern-) Ziele hinführen können – und all das mit dem Ziel, Schüler zu mehr Kreativität und zur Selbst- und Mitverantwortung für den persönlichen Bildungsprozess zu befähigen. Das alles gilt auch und in hohem Maße für Kinder aus anderen Kultur- und Sprachregionen.
Die Vernachlässigung des Erziehungsauftrags unserer Schulen im Allgemeinen und zur Demokratiefähigkeit im Besonderen ist mir bereits in den sechziger Jahren bewusst geworden, als ich im Anschluss an meine damaligen Informationsreisen durch die »pädagogischen Provinzen« der Bundesrepublik und in fast alle westlichen Demokratien inklusive der USA und Kanadas vergleichende Recherchen anstellte. Schon damals wurden mir die bemerkenswerten Anstrengungen deutlich, die andere Demokratien auf sämtlichen Feldern sozialer und demokratischer Bildung und Erziehung vom Kindergarten bis zum Schulabschluss aufzuweisen hatten. Da gab es Projekte zum Einüben und Einhalten selbst gegebener Spielregeln im schulischen Zusammenleben, zum Erwerb sozialer Kompetenzen, inklusive schulinterner Konfliktlösungen. Ich lernte Unterrichtseinheiten kennen, die zum selbstverantworteten demokratischen Handeln inner- und außerhalb der Schulgemeinschaft ermutigten und das Absolvieren freiwilliger sozialer Dienste förderten. Desgleichen erlebte ich selbst organisierte Debattierclubs und gut vorbereitete Diskussionen mit Fachleuten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Politik. Das alles war natürlich nur in Ganztagsschulen möglich. Hinsichtlich dieser Lern- und Erziehungsziele war die Diskrepanz zu unserem verstaatlichten und reglementierten Schulsystem schon damals eklatant.
Die Schulen, die wir also brauchen, müssen Schulen sein, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass unseren Kindern und Enkeln am Ende nicht nur amtliche Abschlüsse und unterschiedliche »Reifegrade« bescheinigt werden, sondern dass sie
von klein auf zur Mitverantwortung, zu Fairness, Toleranz und Zivilcourage – zu demokratischer Teilhabe befähigt werden.
Weshalb tun wir uns mit der Verwirklichung von all dem aber so schwer? Zum einen, weil Erziehung im umfassenden Sinne in Deutschland von jeher als vornehmliche Aufgabe des Elternhauses verstanden wurde. Zum anderen, weil das soziale und mediale Umfeld, in dem Kinder und Jugendliche heute heranwachsen, zumeist konträr zu den schulischen Erziehungszielen ist: Warum soll man in der Schule fordern und fördern, was in der Gesellschaft und in vielen Elternhäusern längst nicht mehr »in« ist? Weshalb etwas lernen, was nicht unbedingt verlangt wird? Weshalb Anstrengungen machen, die nicht unmittelbar dem persönlichen Vorteil zugutekommen? Weshalb Rücksicht nehmen auf Schwächere und ihnen zur Seite stehen, wenn allein »Ellbogen« entscheiden? Weshalb soll man sich für das Gemeinwesen engagieren, wenn die Angebote der Spaßgesellschaft so viel verlockender erscheinen? Dennoch müssten wir all das versuchen. Gerade hier liegen die eigentlichen Bewährungsproben für unsere Schulen, aber auch für die Elternhäuser: nicht die »heile Welt« vorgaukeln, sich nicht von der Realität abkapseln, sondern andere Maßstäbe und Spielregeln setzen, sie einüben und vorleben.
Das Ergebnis und der Stellenwert all dieser Bemühungen wird sich zwar nicht unmittelbar in PISA-Kategorien messen lassen, wohl aber kann ein gutes Schulklima ein Zusammengehörigkeits- und
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