… und der Preis ist dein Leben - Mächtiger als der Tod (German Edition)
von den Toten trennt, am dünnsten. Die Welten überlappen sich sozusagen, und Geistwesen erhalten eine gewisse Substanz. Zwar keine feste Materie, aber sie sind dann doch beinahe solide.“
Den Blick, mit dem Sir Thomas sie maß, als er das sagte, konnte Elizabeth nur schwer einordnen. Fast schien es, als würde er ihr etwas erklären, das er als Teil der Allgemeinbildung betrachtete.
Ihre Gedanken rasten. Hatten Daniel und sie sich jemals bei Sonnenauf- oder -untergang berührt? Sie glaubte nicht … aber da war dieser Moment auf der Bank an der Themse gewesen, als Daniel im Licht der untergehenden Sonne in Rot- und Goldtönen erstrahlt war. Doch sie hatte ihn nicht angefasst. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie ja noch nicht einmal geahnt, dass es ihnen, zumindest im geringen Maße, überhaupt möglich war, sich zu berühren. Und letzten Sonntag im Greenwich Park hatte er bei Sonnenuntergang versonnen mit ihren Haaren gespielt, während sie das Farbenspiel auf seinem Gesicht beobachtet hatte. Verdammt, hätte sie doch nur die Hand nach ihm ausgestreckt! So viele entgangene Gelegenheiten! Wie lang war die Zeitspanne, die sie hatten, wenn die Sonne am Horizont stand? Vier Minuten? Fünf? Etwa zehn Minuten täglich, in denen sie Daniel fest in die Arme schließen konnte.
„Alles in Ordnung, Elizabeth?“ Die Dame im Seidenkleid wirkte besorgt und legte ihr eine Hand aufs Knie.
Elizabeth schreckte aus ihren Gedanken auf. „Ja … danke. Bitte, fahren Sie doch fort, Sir Thomas.“ Ihre Stimme klang leider nicht so fest und gefasst, wie sie es sich gewünscht hätte, und einige Blicke blieben weiterhin neugierig auf ihr haften, als Sir Thomas den Faden wieder aufnahm und seine Erzählung fortsetzte.
„Also, Eleonor und Dorian sind glücklich. Es ist fast wie früher, sie haben einander wieder, und das ist alles, was für Eleonor zählt. Doch je mehr Zeit ins Land geht, desto mehr Wolken trüben das Glück. Es beginnt damit, dass immer mehr Freunde sich von Eleonor abwenden. Sie gilt als wunderlich und eigenbrötlerisch, eine verschrobene eiserne Jungfer, die man immer wieder mit sich selbst reden sieht. Doch sie kann sich niemanden anvertrauen, und ganz langsam fängt sie an, das, was für sie zunächst ein Segen, eine Gnade des Schicksals war, als Fluch zu betrachten. Da sie die Einzige ist, die Dorian hören und sehen kann, ist er natürlich ständig in ihrer Nähe, und es kommt immer häufiger vor, dass Eleonor seine fortwährende Anwesenheit zu erdrücken droht. Doch Dorian um etwas mehr Freiraum zu bitten, das traut sie sich nicht, aus Angst ihn zu verletzten und aus Angst, er könnte sie dann verlassen.
Leider kommt die arme Eleonor auch in keiner Weise mit dem Widerspruch zwischen Nähe und Unerreichbarkeit zurecht. Dorian und sie sind sich zwar immerzu nah, gleichzeitig aber unüberwindbar voneinander getrennt.
Was aber für Eleonor am schwersten wiegt, ist die Tatsache, dass sie mit ihrem Geliebten niemals eine Familie gründen kann. Sie hat sich immer Kinder gewünscht und sich im Greisenalter umringt von zahlreichen Enkeln gesehen. Das würde niemals geschehen. Tatsächlich würden sie und Dorian nicht einmal zusammen alt werden. Nur sie wurde mit jedem Tag älter, während Dorian die gleiche junge Erscheinung blieb, sich nie veränderte und sich niemals weiterentwickelte.“ Sir Thomas unterbrach sich einen Moment und senkte betrübt den Kopf. Es herrschte absolute Stille im Raum, als hielte jeder der Anwesenden gebannt die Luft an. „Eleonor zerbricht schließlich an der Beziehung. Sie lebt in fast völliger Isolation, gilt als verrückt. Da sie und Dorian in dieser Welt kein erfülltes Leben führen können, keine gemeinsame Zukunft haben, entschließt sie sich, ihrem Leben freiwillig ein Ende zu setzen, um endlich voll und ganz mit ihrem Liebsten vereint zu sein. Eleonors Tagebuch endet mit dem Zitat: Der Liebe Last bringt mich zum Sinken. “
Einen Moment lang herrschte bedrücktes Schweigen im Raum, dann flüsterte jemand: „Das ist so romantisch. Wie Romeo und Julia, in Ewigkeit und in Liebe vereint …“
Jäh flackerte der Kronleuchter über ihren Köpfen und zwei Glühbirnen zerbarsten mit einem kleinen Funkenregen. Die Dame links von Elizabeth kreischte überrascht, während sich um sie herum verwirrtes Gemurmel erhob.
Der Herr im Tweedanzug lachte donnernd und meinte: „Da stattet uns wohl Dorians Geist einen Besuch ab.“
Nein, nicht Dorians Geist , dachte Elizabeth. Oh bitte, Himmel,
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