und der tote Richter
temperamentvoller als die in Carsely. Gegen ihr Springen und Taschentücherschwenken nahm sich Nijinsky wie eine lahme Ente aus.
»Ich denke, wer einmal Morris Dancer gesehen hat, kennt sie alle«, konstatierte Roy. »Steck dein verdammtes Notizbuch ein, Steve!«
»Das ist wirklich sehr interessant«, sagte Steve. »Einige Quellen sagen, das Morris Dancing hieß ursprünglich Moorish Dancing und wurde demnach von Mauren eingeführt. Was meinst du?«
»Ich meine … gähn, gähn, gähn«, antwortete Roy jammernd. »Fahren wir und kosten den kosmopoliten Charme von Bourton-on-the-Water.«
Zweifellos ist Bourton-on-the-Water eines der hübschesten Dörfer in den Cotswolds. Mitten durch das Dorf fließt ein kristallklarer Fluss, den mehrere Steinbrücken überspannen. Leider ist das Dorf wegen seiner sagenumwobenen Schönheit auch ständig voller Touristen. Und an diesem Maifeiertag waren sie in solchen Scharen herbeigeströmt, dass Agatha sich nach den friedlichen Straßen Londonssehnte. Überall waren Touristen: große Familien, klebrige, quengelnde Kinder, Busladungen walisischer Rentner, muskelbepackte, tätowierte Männer aus Birmingham. Junge Lolitas in weißen, hochgeschlitzten Röcken stöckelten eisschleckend auf hohen weißen Schuhen umher und kicherten über alles, was ihnen begegnete. Steve wollte alles sehen, was es gab, von den Kunstgalerien bis hin zu den Museen. Agatha fühlte sich deprimiert, denn viele der Dorfmuseen stellten Dinge aus, die sie noch aus ihrer Jugend kannte, und eigentlich sollten in Museen nur wirklich alte Sachen gezeigt werden. Das Dorf bot auch ein Motorenmuseum, gleichfalls gerappelt voll mit Touristen, und unglücklicherweise hatte jemand Steve vom Birdland erzählt, dem Vogelpark am Ende des Dorfes. Folglich mussten sie dort auch hin, Vögel anstarren und Pinguine bewundern. Schon oft hatte Agatha sich gefragt, wie es sein musste, in Hongkong oder Tokio zu leben. Hier hatte sie die Antwort. Überall Leute. Überall essende Leute: Eiscreme, Schokoriegel, Hamburger, Pommes frites … lauter englische Kiefer, die schmatzten, malmten, kauten. Und die Menschen schienen das Gewimmel zu genießen, mit Ausnahme der kleinen Kinder, die müde waren und quengelten, während sie von ihren gleichgültigen Eltern durch die Straßen gezerrt wurden.
Es wurde bereits merklich kühler, als Steve endlich mit einem zufriedenen Seufzer sein Notizbuch zuschlug. Er sah auf seine Uhr. »Ist ja erst halb vier«, sagte er. »Wir können es noch nach Stratford-upon-Avon schaffen. Ich muss unbedingt an Shakespeares Geburtsort gewesen sein!«
Agatha stöhnte im Geiste. Vor gar nicht langer Zeit hätte sie ihm gesagt, das könne er vergessen und dass sie sich zu Tode langweilte und müde wäre. Aber der Gedanke an Carsely und Mrs. Barr reichte, dass sie artig mit ihnen zum Parkplatz ging und Richtung Stratford fuhr.
Sie parkte im mehrgeschossigen Parkhaus und stürzte sich mit Roy und Steve ins Getümmel. Hier gab es noch viel mehr Leute und diesmal aus allen erdenklichen Nationen. Sie ließen sich mit der Menge durch Shakespeares Zuhause treiben, einen seltsam seelenlosen Ort, wie Agatha abermals befand. Das Haus war zu Tode restauriert worden, und Agatha konnte nicht umhin zu vermuten, dass die alten Pubs in den Cotswolds im Vergleich dazu antiker wirkten.
Anschließend ging es nach unten, um den Avon anzusehen, gefolgt von Steves Suche nach Karten für die King Lear -Aufführung der Royal Shakespeare Company am Abend. Zu Agathas Verdruss konnte er sogar welche ergattern.
Mit knurrendem Magen, weil sie immer noch nichts gegessen hatten, hockte Agatha im dunklen Theater. Ihre Gedanken schweiften bald ab zum … Mord? Es konnte sicher nicht schaden, ein bisschen mehr über Mr. Cummings-Browne herauszufinden. Mrs. Simpson hatte die Leiche gefunden, doch wie hatte Mrs. Cummings-Browne reagiert? Der erste Akt verstrich, ohne dass Agatha auch nur Bruchstücke der Handlung mitbekam. Nach zwei großen Gläsern Gin in der Pause war sie ziemlich beschwipst. Wieder einmal malte sie sich aus, wie sie den Fall lösen und so die Anerkennung der Dorfbewohner gewinnen würde. Beim letzten Akt schlief sie tief und fest, und der wortgewaltige Shakespeare stieß bei ihr auf taube Ohren.
Erst als sie nach draußen gingen – schon wieder durch Menschenmassen –, wurde Agatha klar, dass sie nichts zu essen im Haus hatte und es für einen Restaurantbesuch zuspät war. Aber Steve, der irgendwann im Laufe des Tages
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