Und der Wind bringt den Regen
Innereien rausgenommen.» Sie trank nachdenklich einen Schluck Tee. «Mich wundert’s, daß er’s immer noch macht.»
Benbow stellte sich Mr. Bates vor—grau und alt und ausgehöhlt. Und er starrte seine Großtante an.
Sie hatte kratzige Bartstoppeln und schiefe gelbe Zähne, mit vielen Lücken dazwischen, und man konnte sich gut vorstellen, wie sie nach ein oder zwei Wochen im Sarg aussehen würde. Ihr rötliches Haar lag schütter und dünn über ihrem grindigen Schädel. Benbow mochte sie, weil sie so viele Geschichten wußte, Gruselgeschichten, wie er sie liebte, Geschichten, in denen Blut floß und die böse endeten, wahre Geschichten...
Geräuschvoll schlürfte sie den Tee durch ihre Zahnlücken. Dann beugte sie sich mit einem listigen Lächeln vor und sagte leise: «Ich wette, du hast die Straßenbahn gar nicht halten sehen. Du hast dir das alles bloß ausgedacht!»
«Nein, hab ich nicht.»
«Du weißt bestimmt nicht einmal, wie der Schaffner aussah.»
Es war Benbow noch nie in den Sinn gekommen, daß ein Straßenbahnschaffner anders aussehen konnte als eben ein Straßenbahnschaffner. Er schwieg.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, schlürfte Großtante Min einen weiteren Schluck Tee. Dann sagte sie betont beiläufig: «Und wie die Dame aussah, weißt du bestimmt auch nicht.»
«Doch!» erwiderte Benbow heftig.
«Wie denn?» zischte sie. «Wie denn?»
Aber Benbows Herz ging zuweilen seltsame Wege, und jetzt bockte er plötzlich. Er starrte angestrengt auf einen Stuhl und machte sich an der Lehne zu schaffen. Dann wechselte er listig das Thema: «Was die wohl mit Mr. Bates’ Innereien gemacht haben.»
«Na, sicher haben sie alles in eine Flasche gefüllt und ein Etikett draufgeklebt. Sah die Dame so aus wie ich?» fragte sie kichernd.
«Nein, gar nicht.» Er schüttelte den Kopf. «Warum tun sie so etwas?»
Oh, dieser Teufelsbraten! «Na, falls sie mal zu viel rausgenommen haben, damit sie es ihm zurückgeben können. Willst du einen Bonbon?»
«Oja, bitte.»
Großtante Min langte in ihre Handtasche und zog mit der großen Geste eines Zauberkünstlers einen in Papier gehüllten Toffee heraus, den sie ihm vor die Nase hielt. «Denk mal nach, mein Schatz. Sah sie vielleicht so aus wie - wie deine Mam?»
Doch in diesem Augenblick kam seine Mutter wieder in die Küche. In Großtante Mins Augen flammte eine Sekunde lang Wut auf. Sie wollte den kostbaren Toffee wieder einstecken, aber es war zu spät. Nell, überrascht und erfreut ob der ungewohnten Großmut, sagte: «Sagdanke, Benbow.»
«Danke.» Benbow wickelte den Toffee sofort aus und ließ ihn in seinem Mund verschwinden. Diesmal hatte Tante Min den kürzeren gezogen. Sie trank ihren Tee aus und verschwand.
Nell begann, die Druckerschwärze aus Benbows Sachen herauszuwaschen. «Was wollte sie denn wissen, mein Herz?» fragte sie, während sie rieb und scheuerte.
«Ach, wegen der Bahn. Und wie die Dame aussah, die den Schaffner geküßt hat.»
Nell rieb noch heftiger. «Und was hast du gesagt?»
«Gar nichts», sagte er gleichgültig, und dann erzählte er ihr aufgeregt: «Sie hat gesagt, sie haben Mr. Bates’ Innereien in eine Flasche getan und —»
Sie schloß einen Augenblick die Augen und preßte seinen Kopf an ihre Brust. Geier, dachte sie. Lauter Geier — Tante Min, Edith, Oma, Opa. Lauter lauernde schwarze Geier, die darauf warteten, über ihr Opfer herzufallen und es zu zerfleischen.
Taffy Evans war kein Ungeheuer. Aber er hatte zwei Fehler, für die es in den Augen der Leute von Ingerby keine Entschuldigung gab: er war Waliser, und er hatte Plattfüße.
Ein Waliser war für die meisten schon beinahe ein Ausländer. Deshalb war Taffy ihnen von Anfang an verdächtig. Sie trauten ihm alles zu. Sie hielten ihn für einen Wüstling, für einen Spion im Sold der Deutschen. Bei der Army hatte man ihn wegen seiner Plattfüße für kriegsuntauglich erklärt, und er hatte falsch darauf reagiert. Von einem Mann, dem so etwas widerfuhr, wurde erwartet, daß er sich auf dem Marktplatz heulend die Haare raufte und den Tag seiner Geburt verfluchte vor Wut und Verzweiflung darüber, daß er . Statt dessen hatte Taffy Evans, der Dummkopf, über das ganze Gesicht gegrinst und gesagt: «Oh, fein! Ich hab noch nie Blut sehen können, vor allem nicht mein eigenes.» Und dann hatte er eine Stellung bei der Straßenbahn angenommen - auch wieder ein Fehler, denn wenn einer schon zum
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