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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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auf den Planken über mir? Als ich da in meinem Winkel lag, in tiefem Schlaf – nein, nicht schlafend – wach. War etwa Beth auf den Planken über mir. Als ich in meinem Winkel lag, hellwach.
    »Jesus«, sagte sie, »Jesus, bist Du bei mir? Ich glaube, Du bist hier. Ja, ich kann Dich überall spüren. O ich weiß es, Du bist bei mir.
    Ich hab heut nacht in meinem Zimmer auf Dich gewartet, aber dann kamen die Feldarbeiter, und ich hab gehört, wie einer von ihnen Daddy erzählte, daß Du unter der Brücke bist, aber wegen des Dorngestrüpps wollte ihm keiner glauben. Die haben gesagt, um unter die Brücke zu kommen, hättest Du dich schon in ein Kaninchen verwandeln müssen. Hast Du das getan, Jesus? Er hat gesagt, er hätte Dich atmen gehört, und daher wußte ich, daß er recht hatte, und da mußte ich einfach zu Dir kommen. Ich hab mich aus dem Fenster geschlichen, genau wie Du.«
    Sie schwieg einen Moment, und ich hörte nur das vorsichtige Trippeln ihrer Füße. Dann redete sie weiter. So zerbrechlich. So zärtlich. »Ich liebe Dich, Jesus. Du hast meiner Einsamkeit ein Ende gemacht.«
    Und wieder verstummte sie. Und wieder das Schlurfen ihrer Füße. Es war, als befragte sie die Stille, um mich zu finden, als hielte sie ein, um zu horchen, dann wieder einen behutsamen Schritt zu tun – jedesmal kam sie ein bißchen näher – denn die Stille übermittelte wahrhaftig sehr genaue Informationen, so wie ich keuchte, so wie ich blutete – bis das Kind auf die wackligen Bretter direkt über mir trat und die Sohlen ihrer Pantoffeln buchstäblich nur noch um Plankenbreite von meinem verzerrten pochenden Gesicht entfernt waren.
    »O Jesus, ich bin’s, Beth. Du brauchst nicht zu sprechen. Ich weiß, daß Du da bist. Ich kann Dich nicht sehen. Aber ich weiß es. Bitte, sag nichts. Es ist sicherer, wenn Du nur zuhörst.«
    Dann muß sie sich wohl hingehockt haben, denn obwohl ihre Stimme sich zu einem Flüstern gesenkt hatte, konnte ich ihre Worte ganz deutlich hören – ich bildete mir ein, sogar die süße Wärme ihres Atems durch die Ritzen spüren zu können – während meiner – mein Atem – na ja, mein Atem keuchte weiter vor sich hin, wurde immer heiserer, je verzweifelter ich ihn zu unterdrücken versuchte – und, nun ja – vielleicht hätte ich ihn ein bißchen besser unterdrücken können, wenn mein hechelndes Herz und sein panisches Poltern mich nicht so beschäftigt hätten. Gott, was für ein Lärm da drinnen.
    »Ich weiß, die Frauen sind weise Frauen. Ich weiß das. Sie haben vorhergesagt, Du würdest kommen und mich zu Deiner … Magd erwählen. Aber ich kann sie nicht leiden. Es tut mir leid, Jesus. Ich weiß, es ist unrecht, aber ich kann nichts dagegen machen. Ich hasse sie, weil sie Dich hassen und vor Dir Angst haben und Dir wehtun wollen. Am liebsten würde ich sie alle nie mehr wiedersehen, keine von ihnen. Am liebsten würde ich keine von ihren Fragen mehr beantworten müssen. Es tut mir leid, daß sie Dich geschlagen haben. Das werd ich ihnen nie verzeihen, obwohl ich weiß, daß auch das nicht recht ist.
    Ich weiß, warum Du mich erwählt hast. Weil niemand Dich mehr lieben könnte als ich. Ich bin Dein kleines Püppchen. Ich gebe mich Dir hin, ohne Fragen zu stellen.«
    Ihre winzige Stimme säuselte immer weiter.
    »Und ich weiß, warum unsere Freundschaft geheim bleiben muß. Sonst werden sie Dich töten, wie sie Dich in der Bibel getötet haben. Und dann könnten wir nicht Zusammensein. Ohne diese Leute würden wir hier im Tal zusammenleben. Wie ein Liebespaar. Aber wir müssen vorsichtig sein, Jesus. Ich glaub, ich würde sterben, wenn Dir etwas zustoßen würde …« – sie weinte wohl, denn ich hörte sie leise schluchzen, als sie sprach – »… die Augen schließen und sterben.« Und sie ließ eine schwere Träne fallen, und die Träne fiel durch eine Ritze und explodierte auf meinem Gesicht, direkt unter der rechten Wange. Und als der Tropfen zu rinnen begann, fing ich ihn mit meiner Zunge auf.
    Und kurz erschreckte mich die Süße dieser Träne, denn bisher hatte ich nur bittere gekannt – nur bittere – immer nur bittere Tränen.
    »Du besuchst mich in meinen Träumen, Jesus. Ich sitze auf den Stufen des Denkmals, wo Gott mich abgesetzt hat, als er den Regen beendete, und ich höre etwas hinter mir und drehe mich um. Der steinerne Engel ist lebendig geworden, und, Jesus, das bist Du, mit großen weißen Flügeln und die Sichel hoch über Deinem Kopf – Deine blutige

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