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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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getan, nackt zusammengekauert hab ich dort geschlummert.
     
    Die Angst soll man nie unterschätzen. Die Angst ist der Boss. Die Angst ist der König. Die Angst ist Gott. Sie ist überall und in allem. Das Gefahrenpotential. Was sagt ihr dazu? Die Angst ist ein guter Häuptling, aber ein schlechter Krieger. So seh ich das. Das ist meine Meinung. Von allen emotionalen Einflüssen, die mit unseren Sinnen ihr Spiel treiben, ist keiner so zermürbend, so anstrengend, so hartnäckig wie die Angst. Und dies alles so sehr, daß ich, als ich da – so ängstlich – so voller Angst – in diesem schaurigen Winkel unter der Brücke begraben lag, den schrecklichen Zustand meines Körpers kaum bemerkt hab. Dabei hatte mein Gehirn zweifellos protestiert, aber es war von der Angst so gründlich verwüstet, daß die Schalttafel meiner Sinne sich verklemmt hatte. Als jetzt die Motoren in der Ferne verbrummten und die Angst fürs erste nachließ, drängte sich der Schmerz heran.
    Ein gräßlicher Krampf packte mein rechtes Bein. Das linke war fühllos und tot. Mit dem freien Arm griff ich nach einem Stützbalken unter der Brücke, zog mich ein paar Zentimeter hoch, drehte mich, die Knie noch immer an die Brust gezogen, herum, und ließ mich auf den Rücken sinken. Siedender Schmerz fuhr durch die entzündeten Striemen auf meinem Rücken und Schultern, ich schrie auf und zerrte mich hoch, wobei ich eine Handvoll Schnecken zerquetschte, denen die Wärme meines Körpers willkommen schien; sie schälten sich von den Balken und fielen kühl auf die Feuersbrunst meines Fleischs.
    Der Schmerz, der von den dicken aufgeschürften Schwellungen auf meinem Rücken und Schultern ausging, schien Teile meiner Erinnerung zu wecken, die sonst wohl weiter geruht hätten – völlig verworrene Ausbrüche von Erinnerungen – verwirrende – fremde – verlorene Wiederholungen, die von Schreien aus weißglühendem Schmerz ausgelöst wurden – schreckliche Bruchstücke der Totzeit, gespenstisch in ihrer Lebhaftigkeit und irgendwie noch quälender gemacht durch ihre Flüchtigkeit, ihre Zusammenhanglosigkeit und ihre Unschlüssigkeit. Totzeit, von neuem durchlebt unter Qualen.
    Finsternis. Knarrende Dielen unter meinen Füßen. Ein Stück Mond, das durch ein weit offenes Fenster scheint. Ein wehender Vorhang. Ich bin fast nackt, aber es ist Nacht, und kein Licht ist in diesem Zimmer. Aber ich kenne das Zimmer. Ich kenne das Zimmer. Mädchengerüche. Saubere Laken. Seife. Puder. Ihre Gerüche. Dann ein drängendes Flüstern, zitternd und aufgeregt. Aufgeregt. Ihre Stimme. Auf Armeslänge entfernt. Komm … zu … mir … Jesus. O … Jesus … bitte … komm … zu … mir. Bumm-bumm bumm-bumm bumm-bumm bumm-bumm. Sichelblitzen. Der Mond ein blutrotes Scheibchen. Hier im Dunkeln. In ihrem Zimmer. Der Hauch ihrer Worte an der Haut meines Gesichts. Ich … bin … bereit. Ich … bin … bereit. Sauberer Baumwollstoff.
    Mein Körper glänzt im Mondlicht. Lavendel streift meine Wange. Dein kleines Püppchen … kleines Püppchen … ist bereit. Errötende Schwärze. Errötende Schwärze. Totzeit.
    Dann eine grelle Explosion. Eine Wand voll Wachspuppen mit aufgeklappten Mündern. Beths Antlitz naß von Tränen. Und ich – und ich stehe in der Mitte des Zimmers, getaucht in beschämendes Licht. Und in der Tür – eine Riesin. Geblümte Schürze. Rotes Gesicht. Nudelholz in der Faust. Und ihre Zähne schrien O mein Gott … O mein Gott … O mein Gott. Ich wirbele herum. Sehe, wie Beth sich in ein weißes Laken hüllt, aufrecht im Bett sitzend. Und ich zittere vor Angst. Stürze zum Fenster. Klettere raus. Brutale Schläge auf meinen Rücken – mit der Keule, mit der Nudelrolle. Dumpfes Klatschen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Schreiend und taumelnd renne ich wie ein verwundeter Hund durch die Nacht. Krieche durch Staub und Dunkel meiner Zuflucht entgegen, meinem Königreich. Dann dort, in meinem Zimmer, heul ich, wahnsinnig vor Schmerzen. Erbreche mit dem Stiel einer Axt einen Zwinger. Prügle dumpfes Fleisch.
    Schmerzübertragung. Heule vor Schmerz wie die Hunde in der Finsternis. Eine Handvoll Stoff, nach Lavendel duftend. Frisch und neu und ganz aufgeknöpft. Noch warm von ihr. In meinen Händen –
     
    Über mir hörte ich Pantoffeln trippeln. Im Mondschein sahen die Träger der Brücke aus wie gefeilte Zähne, und der Mond sah aus wie ein Reißzahn. Das Trippeln der Pantoffeln wurde lauter, kam näher und trug den Duft von Lavendel heran. War etwa Beth da

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