Und die Eselin sah den Engel
Sichel – Dein Zeichen. Siehst Du! Ich verstehe alles. Und Dein schönes Haar hängt weit über Deine Schultern herab, und Deine schönen Augen sind so voller Liebe. Du sprichst kein einziges Wort, aber alle Deine Wunden bluten.
Sei bitte nicht böse mit mir, Jesus. Es tut mir so leid, daß sie Dich geschlagen haben. Auch mir hat das wehgetan. Erst sagen sie, ich soll Dich lieben, und dann jagen sie Dich fort. Diese Welt ist zu grausam für uns.
Wie sieht es in Deiner Welt aus? Da muß es schön und ruhig sein. Alle verstehen sich, und es gibt keine Fragen. Nimmst Du mich mit? In Deine schöne Welt?«
Beth verstummte. Ich hörte, wie ihre Schritte sich entfernten und dann hastig zurückkamen. Und dann eindringlich: »Sie kommen! Bitte, Jesus, bleib wo Du bist. Sag nichts. Hör zu. Memorial Square. Am Abend der Feier. Ich werde auf Dich warten.«
Ich hörte einen Wagen – zwei Wagen – mit quietschenden Reifen bremsen. Dann hastende Schritte, schwer und erwachsen.
»Beth! Beth! Ich bin’s, Daddy! Bist du verletzt?« rief Daddy.
Und dann noch mehr eilige Schritte, nur schwerer, langsamer. Und ein seltsames Ticken von Rädern.
»Laß sie los, Sardus Swift«, keifte eine Frauenstimme. »Jetzt ist endgültig Schluß! Nein! Keine Widerrede, Sardus. Wenn du das Kind nicht beaufsichtigen kannst, dann werden wir jemand finden müssen, der es kann. Hilda, bring sie in den Wagen. Heut nacht bleibt sie bei mir.« Ich hörte die Leute abziehen, aber das Räderticken und die stapfenden Schritte säumten noch ein wenig, und eine andere Frauenstimme, tief und strohdumm, sagte schleppend: »Na, Wilma, glaubst du mir jetzt endlich? Oder laufen alle Bräute Christi halbnackt in der Nacht herum?«
»Sei still, Närrin«, flüsterte Wilma Eldridge giftig zurück, und ihre Worte ließen mich erschaudern. »Es geht nicht darum, ob du gestern nacht jemand im Zimmer des Kindes erwischt hast oder nicht. Das ist nun mal passiert. Liegt nicht mehr in unserer Hand. Wichtig ist nur, dumme Gans, daß niemand davon erfährt. Jetzt wissen nur wir beide von diesem Vorfall, und wenn ich also von irgendwem auch nur eine Andeutung darüber höre, werd ich ganz genau wissen, wer da sein großes Maul aufgerissen hat. Hab ich mich deutlich genug ausgedrückt? Und glaub mir, Hilda, dann fliegen die Fetzen. Kapiert? Und jetzt hör auf, so rumzunicken, und schieb mich zum Auto.«
Ich bebte in meinem Versteck – das Greinen der Räder wurde leiser – tick tick tick quietsch, tick tick tick quietsch – und die beiden Verschwörerinnen schlossen sich den anderen an.
Wütende Motoren heulten auf.
Und wurden leiser. Leiser.
Wißt ihr, manchmal erinnert mich Gott an jenen mißverstandenen Riesen mit dem goldenen Herzen, der ohne alle Freunde einsam hinter seinem Berg wohnt, der von allen, die in seinem Schatten leben, gefürchtet und gemieden wird, der aber, von niemandem bemerkt, große gütige Werke tut – zum Beispiel einer Prinzessin eine Regenwolke aus dem Weg pustet. Aber die Leute können nur seine schlechte Seite sehen, wenn er, von Enttäuschung und Trauer überwältigt, ein paar Städte zertrampelt. Doch wenn die Leute nur mal damit aufhörten und seine gute Seite sähen, wenn sie ihn ermunterten und seine Freunde würden, wenn sie ihn bäten, bei ihnen in der Stadt zu leben, dann wäre er nicht mehr enttäuscht und traurig und hätte keinen Grund mehr, ihnen Schaden zuzufügen. Aber, o nein, das würden sie nie. Haben es nicht einmal versucht. Oder habt ihr es versucht?
Zum Beispiel. Das Sumpfland ist ein großer, schalldichter Kreis von Vegetation. Wenn ihr das Sumpfland betretet, und mag es nur ein paar Schritte weit sein, wird euch die vollkommene Abwesenheit aller Geräusche auffallen. Das Sumpfland hat seine eigene Sprache – ein bißchen Stöhnen, ein bißchen Quarren, ein bißchen Schnappen nach Luft. Doch während ich in diesem matschigen Kreis aus Treibschlamm versinke, ist es mir wichtig, das Nahen meiner Henker zu hören, damit mir die Zeit nicht völlig aus der Kontrolle gerät und ich nicht einfach so verschwinde. Und ich kann sie hören! Ich höre sie!
Und das ist das Schöne daran, ein Gottesgeschenk. Hört zu.
Ich kann Autos hören. Autos und Lieferwagen. Ich kann ihre Hupen hören, das Aufheulen ihrer rächenden Motoren. Ah, meine Henker. Meine Mörder. Von allen Seiten strömen sie auf meine Hütte zu.
Ich kann ihr Gebrüll hören, jetzt, in diesem Augenblick, ein nördlicher Wind trägt es über das
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