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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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vom Hackbeil eines Blitzes in der Mitte gespalten – in der Regenzeit, nehm ich an –, diente mir als eine Art Pritsche; ausgestreckt zwischen den beiden Hälften, die ich mit Pappe und Moos gepolstert hatte, lag ich eingekapselt von zwei Wänden aus Laubwerk, das sich um ein paar Schindeln bog, die zur Unterstützung an die Baumstämme genagelt waren, und oben verschränkten sich die Ranken zu einer niedrigen Decke. Ich konnte ganz bequem aufrecht sitzen – über mir war noch Platz genug für meinen Engel, der in meinen späteren Jahren auf dem Baumstumpf am Fußende meines Kokons zu erscheinen pflegte, dann hineinkam und sich zu mir legte.
    Manchmal hörte ich tausende von Stimmen, denn Gott hat viele Zungen, und die flüsterten auf mich ein, wenn ich so allein da lag. Alle meine Gefühle, die ich aß wie das tägliche Brot, Angst und Wut und Verzweiflung, fielen dann von mir ab, und ich fühlte mich sehr stark. Sehr stark.
    Sie enthüllten … Er enthüllte mir Dinge, besonderes Wissen, das weiß ich. Erst über mich selbst. Dann über andere.
     
    Ohne sich dessen so recht bewußt zu sein, hatten die Ukuliten bereits in dem Augenblick damit angefangen, Beth auf den Stand der Heiligkeit vorzubereiten, da die Sonne zum erstenmal durch die Wolkendecke brach und die Locke auf der Stirn des Findlings küßte. Nie schien der irdische Leib eines Menschen so kostbar wie der von Beth. Noch ward je ein Kind so gehätschelt und getätschelt und systematisch verdorben wie diese unwissentliche kleine Betrügerin.
    Da sie keine Mutter hatte – nur einen unerfahrenen Adoptivvater –, wurde Beth in ihren ersten Lebensjahren zur Teilzeittochter von hundert vernarrten Teilzeitmüttern – oder Möchtegern-Teilzeitmüttern, die alle entschlossen waren, den Bedürfnissen der Himmelsbotin auf eine Weise nachzukommen, die der gesegneten Frucht solch wunderbarer Umstände angemessen wäre. Die Frauen wechselten sich ab, für Sardus Swift und die kleine Beth zu kochen, waren stolz, wenn das Kind ihren Brei aß, und verzweifelten, wenn es ihn verschmähte.
    Die Zuwendung dieser vielbrüstigen, vielstimmigen, zupfenden und zwackenden Mater schien für das Kindlein – das Windelbaby – ein wahrer Segen. Beths erste fünf Lebensjahre gingen in Gesundheit und allzeit guter Laune ohne jeden Zwischenfall dahin, und als stilles und friedsames Kind blieb sie stets freundlich in dem Wechselbad übereifriger Frauen, ja, entwickelte mit der Zeit ein scheues Lächeln – diese Grübchen! –, das noch der strengsten Matrone ein Gurren oder Glucksen entlockte – herzlicher Lohn für ihre Mühen.
    Und jedesmal, wenn sich ihr Kommen jährte, holten die Ukuliten Beth ab und brachten sie – ein perlweißes Bündel, den Kopf mit einem Veilchenkranz umwunden – auf den Platz in der Mitte der Stadt. Unter dem erhabenen Denkmal, das mit Girlanden tintenblauer Blüten von den Gräbern auf Hooper’s Hill behängt war, hob dann Sardus Swift das Baby gen Himmel und sprach ein Dankgebet – seine jetzt klaren und blauen Augen, zwei Quellen, die früher den bitteren Essig des Kummers vergossen hatten, schwammen in süßen Freudentränen, und seine schluchzende Herde heulte einen wahren Regen zusammen.
    Dann warfen sich die Mitglieder der Gemeinde eins nach dem anderen auf den Boden und küßten die sonnewarmen Stufen, auf denen das Findelkind entdeckt worden war, und Hallelujas und Hosiannas und der widerwärtige Duft der Trompetenblüten erfüllten die Luft des Sommers.
    Im sechsten Lebensjahr des Kindes gab die alte Jungfer Molly Barlow Beths komisches kleines Lächeln augenklimpernd zurück und sagte: »Dies Kind ist mit Sicherheit aus heiligerem Stoff gemacht als ich oder Ihr, Sardus« – eine herausgehustete Bemerkung, die feucht war von Anspielungen und Tuberkulose.
    »Wir wollen es hoffen, Schwester«, erwiderte Sardus kühl, insgeheim der ganzen Weltverbesserer überdrüssig, die ständig sein Haus belagerten, um das Kind zu verhätscheln und ihn selbst zu mästen, überdrüssig vor allem all jener Molly Barlows, die ihn nicht als Sardus den Vater, sondern als Sardus den Heiratskandidaten betrachteten.
    Doch solche Gefühle ließ er nie nach außen treten, denn er brauchte nur seine Tochter anzusehen, um zu wissen, daß er auch weiterhin essen würde, was auch immer die Frauen ihm auftischten, ihrem unablässigen Geschwätz lauschen und ihre öligen Komplimente erwidern würde, denn all dies war nur ein kleiner Preis für das weitere Glück und

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