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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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Menschen und sehr schmerzlich – und überhaupt nicht wie die anderen Stimmen, denn ich schien die Quelle dieser Qual ganz mühelos orten zu können, während die Gegenwart der besonderen Stimmen etwas Absolutes an sich hat, das es praktisch unmöglich macht, sie … Scheiße, vergeßt es.
    Ich hüpfte über den Graben, stieg durch den Zaun am unteren Ende der Ruhmes-Ebene und trat in das hohe Gras. Mit einem Stock auf die Halme schlagend, ging ich auf das Stöhnen zu. Es wurde lauter, erbärmlicher – und plötzlich sah ich, nur einen Steinwurf entfernt, das hüfthohe Gras wild aufrascheln.
    Den Stock ausgestreckt, ging ich darauf zu.
    »Erbarmen! Erbarmen!« hörte ich jemand rufen; ich schlug das Gras auseinander und erblickte vor mir, in schwarzen Lumpen, einen dreckigen Hobo.
    Der Hobo war mit einem Fuß in eine von Pas Fallen getreten – eine etwa zwei Fuß tiefe Grube, abgedeckt mit dem Deckel eines Stahlfasses, aus dem ein sternförmiges achtzackiges Loch herausgeschnitten war. Er lag auf dem Rücken, starrte in den Himmel und hielt das blutende Bein mit beiden Händen am Knie umklammert. Er heulte vor Schmerzen.
    Ich grub den Deckel aus, entfernte die zwei Stifte, die ihn am Rand zusammenhielten; dann zerrte ich ihn auseinander, bis die Blechzacken heraus waren, und als der Hobo langsam sein Bein aus dem Rachen zog, fuhr ich erschreckt zurück. Sein Stiefel stand bis zum Rand voll Blut.
    Der Mann sah ganz verschrumpelt aus und hätte sich mal rasieren können. Er stützte sich auf einen Ellbogen, hob seinen freien Arm und zeigte mit einem schaurigen Finger auf mich. »Gott wird dich vernichten, wenn du mich hier liegen läßt!« fauchte er. Dann schloß er die Augen, bleckte seine kleinen grünen Zähne und verlor das Bewußtsein.
    Ich packte den Hobo unter den Armen und schleifte ihn mühsam zu der baufälligen Kirche auf der Ruhmes-Ebene hinauf; sein Fuß hinterließ eine dunkle Blutspur.
    Auf der kaputten Treppe der Kirche ließ ich ihn liegen.
    Ich rannte nach Hause.
    Ich griff mir ein Gurkenglas von dem Flaschenberg an der Südwand der Hütte, füllte es mit Kartoffelschalenschnaps aus einer der Destillen, schraubte den Deckel zu und stürzte den Hang zum Galgenbaum runter, an dessen Armstumpf zwei Krähen herumhackten. Mit dem dicken Ende meines Stocks grub ich die Schere aus, steckte sie mir in den Gürtel, und ohne auch nur Atem zu holen rannte ich ungefähr in Richtung Kirche los. Selbst im Laufen spürte ich den grausigen Finger des Hobos, wie er stählern und stachlig auf mich zeigte und seine Prophezeiung ausspie. Gott, seine finstere Drohung klang mir in den Ohren!
    Wieder im Gras, fand ich sofort die Blutspur des Hobos und folgte, ein fürchterliches Pochen im Kopf, dem roten Rinnsal bis zu seinem Stiefel.
    Und den fand ich, wo ich ihn gelassen hatte, in einer Wolke von Fliegen. Aber der Penner – der war weg!
    Ich wagte mich die Treppe hoch und trat über die Schwelle des Gotteshauses. Meine Gedanken waren erfüllt von all den bilderstürmerischen Wunderdingen, die mich bei früheren heimlichen Besuchen der Kirche, viele Jahre zuvor, so sehr bewegt hatten. Ich erinnerte mich an die Stationen des Kreuzwegs, die, so kunstvoll und so liebevoll ausgearbeitet, die Säulen bevölkerten; und die Heiligen in den bleiverglasten Fenstern – Lichtquellen, die Blöcke bunten Lichts in Vorraum und Kapelle warfen. Ich erinnerte mich an schockierendes Feuerrot – einen goldenen Heiligenschein – ein helles, gesprenkeltes Tuch aus Licht – die farbigen Blöcke: wie warm und alles durchflutend sie glühten, wenn ich in der Pracht ihrer Heiligkeit – ihres Martyriums badete.
    Ich trat in den Vorraum, und oh, wie war dieser Ort der Andacht in Ungnade gefallen. Dort stand ein Büchergestell mit Liederbüchern und kleinen Bibeln, schmählich verwahrlost in ihren Umschlägen aus Staub und Spinnweben. Ich zog mir eine Bibel heraus. Wasser hatte den Einband verzogen und die Seiten fleckig gemacht; innen war das Papier noch feucht und mit grauen Schimmelflecken übersät. Auf einer Seite war zu lesen:
     
    5 Gefrevelt haben sie, sie ,
    die Er erzeugte ohne Makel,
    ein verkehrtes und verdrehtes Geschlecht.
     
    Meine Kopfhaut zog sich zusammen, und ich klappte das Buch zu. Schauriges Ding. Die Bibel. Manchmal.
    Den blutigen, von Fliegen starrenden Stiefel ließ ich draußen, aber dieser Akt der Ehrfurcht war überflüssig, denn es schien, als wenn sämtliches Geziefer des ganzen Tals dies kleine Vestibül zu

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