Und die Eselin sah den Engel
Judensau! Die gehört mir! Hörst du? MIR! Kike! Kiiike!!«
Kike setzte sich hin, und die ganze Bank schaukelte von seinem gröhlenden, zahnlosen, naßlippigen und roten Gelächter. Seine geschwollene Nase pochte wie ein Herz, das violettes Blut durch das Netzwerk anschwellender Adern auf seinem Gesicht pumpte.
Dann rannte Kike mit dem Fusel unter seinem schweren Flanellmantel den Gang runter, und die steinernen Wände schlugen sein Gelächter hin und her, Echo um Echo, bis das Lachen selbst zu einer Wand wurde, an der man nächtelang Scheiße hätte hochstapeln können, ohne daß sie jemals übergelaufen wäre. Nach seinen vergeblichen Bemühungen, den Schnaps zurückzubekommen, wurde der lahme Penner wieder still und schmorte vor sich hin.
Kike schwankte in den vorderen Teil der Kirche und setzte sich auf das, was einmal der Altar gewesen war. Schnaubend und kichernd soff er das Gurkenglas aus und rollte es dann den Gang runter. Er sah ihm nach, bis es klappernd ausgetrudelt hatte, und begann dann mit verträumter Stimme zu singen:
»… Jede Träne dreht ein Rad
Für Johnny, meinen toten Soldaten …«
Worauf er langsam nach hinten kippte und ausgestreckt in den Trümmern liegenblieb.
Der andere Hobo machte ein Auge auf, umklammerte theatralisch sein schlimmes Bein, und flüsterte mit schwacher und ganz zittriger Stimme: »Kann’s du mich hören Junge? Ich glaub, ich geb gleich den Geist auf.
Spür schon, wie Engelsflügel mich anwehen. Ich sterbe, mein Sohn, und Gott sieht zu! Nächstenliebe sei dein Name. Freund, das ist die letzte Bitte eines Sterbenden. Sei ein guter Christ und erleuchte diesen Winkel. Zapf mir noch eine Abschiedsflasche. Bring mir Schnaps, damit ich mit einem Lächeln auf den Lippen abtreten kann. Hast mich verstanden, Freund?«
Ich verabscheute diesen Kerl. Haßte ihn. Er war abstoßend und schmutzig, und er stank – und irgendwie kam er mir vertraut vor. Er erinnerte mich an … an … er erinnerte mich an … aber ich wollte ihm nicht wehtun. Sondern ging auf sein Spielchen ein, zog ihm eine Flasche aus der Destille ab und brachte sie in das Pennerheim – die Kirche.
Und am nächsten Tag brachte ich ihnen mehr – ebenso am Tag danach. Wieder und immer wieder war ich stummer Zeuge, wie der verkrüppelte Penner und sein Scheusal von Kumpan sich um die ekelhafte Brühe zankten und balgten, als ginge es um Leben oder Tod. Und immer wieder gossen sie beide den geklauten Schnaps in langen Zügen in sich hinein, nur um dann blind und lachend herumzutorkeln – und über wen lachten sie? Über mich.
Auch fingen sie hitzige und haarsträubende Debatten über theologische Dinge an, die jedesmal damit endeten, daß Kike leere Flaschen oder Dosen nach dem Christus an der Wand schleuderte. Kike, so stellte sich heraus, war der Künstler mit der blasphemischen Hand. Dafür würde er bezahlen. Sie alle beide.
Keiner von ihnen bemerkte das böse Knirschen im Getriebe, keiner von ihnen merkte, daß sich langsam die Räder einer Höllenmaschine in Bewegung setzten. Daß ihr stummer kleiner »Wasserjunge«, wie sie mich nannten, allmählich den Stoff des Verrates in sich ansammelte – daß ich die finstere Gestalt war, die hinterm Vorhang lauerte.
Ich spielte ihr Spiel mit und wartete. Ja, und wißt ihr was: die Inspiration ließ mich nicht im Stich.
Ich meine, allein, in meiner dunklen Zuflucht – soll heißen, hier, im Sumpfland, auf dem Rücken in meiner Grotte liegend – überlegte ich mir, was ich tun könnte – ich meine, nicht alle meine Ideen stammten von mir, versteht ihr? Aber ich überlegte mir – oder genauer, die Überlegungen kamen zu mir, als ich da so in meinem Dreieck von Inspirationen lag – ja, Inspirationen – die Hure, die kindliche Heilige und mein Schutzengel. Unerbittlich aneinandergekettet, dies himmlische Trio – der rosa Stoff des Nachthemdes der Hure unter mir, ausgebreitet wie ein Fell – das Bild der kindlichen Heiligen über mir, sie trank mich mit ihren betörenden Augen – und rings um mich her mein Engel, meine göttliche Heimsuchung, die mich mit ihrem Dasein erfüllte und mich inspirierte. Gemeinsam lenkten sie meine Hand, diese drei, lenkten meine Hand in der Finsternis. Wie eine unsichtbare Rüstung schützten sie mich vor denen, die mich vernichten wollten – meine Seele vernichten wollten –, ob dies nun die blutrünstigen Bestien von Feldarbeitern waren, die Heuchler in der Stadt, oder die versoffenen Penner in der Kirche.
Jeder Gedanke,
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