Und die Eselin sah den Engel
etwas, das sich jedem Deutungsversuch verschloß, genau wie in jenen Worten. In irgendeinem schrecklichen Sektor meines Hirns wurde ein vertrauter Akkord angeschlagen, den meine Haut kannte und an dem sie verzweifelte, von dem aber der Rest meines Geistes nichts wissen wollte. So etwas wie eine Warnung womöglich, oder etwas außerhalb meiner selbst, das mir eine Mitteilung zukommen ließ, die ich nicht verstand. Mag sein, daß Gott auf vielfältige Weise zu einem spricht, nicht nur mit Seiner Stimme. Ich hatte eine Gänsehaut und mußte meinen Blick von seinem Gesicht abwenden. Ich sah nach seiner Wunde.
Eine schlimme Wunde; das Schienbein war an beiden Seiten aufgerissen. Blut lief am Bein runter und fiel in schweren dunklen Tropfen von der Fersenspitze. Eine schlimme blutende Wunde, aber mit Wunden kenn ich mich aus.
Ich habe stets mindestens zwei Taschentücher dabei, besonders seit mir dauernd die Nase blutet. Ich nahm eins aus meiner hinteren Hosentasche und schob dafür die Bibel rein. Dann schraubte ich den Deckel von dem Gurkenglas ab, und die betäubenden Dünste des Schalenfusels drehten mir fast den Magen um. Mit angehaltenem Atem tränkte ich das Tuch mit dem Schnaps, beugte mich über das verletzte Bein und kippte einen Fingerbreit oder zwei direkt auf die Wunde. Der Penner fuhr auf, fiel dann wieder zurück, aber aus seiner Kehle drang ein furchtbar gequältes, ununterbrochenes Stöhnen, das erst aufhörte, als ich die Säuberung der klaffenden Wunde mit dem sterilisierten Taschentuch beendet hatte. So abgetupft, sah die Wunde schon besser aus. Dann zerschnitt ich mit der Schere das zweite Taschentuch in gleichmäßige Streifen und verband dem Hobo das Bein. Das Glas mit dem Fusel, noch dreiviertelvoll, hatte ich auf der Bank zwischen seinen Knien abgestellt, und als ich den Verband zugeknotet hatte, blickte ich auf und sah den Hobo auf einen zittrigen Ellbogen gestützt: seine schmutzigen Finger hielten das Gurkenglas gepackt, und er trank mit langen hastigen Zügen. Sein starrer Fischblick war verschwunden. Nervös zuckten seine trüben Augäpfel in ihren Höhlen, wobei aber sein Blick, selbst als er das Gift in sich reinsoff, ständig auf mich gerichtet blieb. Wie ein Baby mit seinem Fläschchen krümmte er sich und trank und schlabberte und grinste und grimassierte und stierte mich an, und ich stand, die Schere noch in der Hand, neben seinem geflickten Bein und glotzte zurück, und so ging das wohl für ein zwei Minuten, oder nein – schätze, es war noch etwas mehr – schätze, es war noch ziemlich viel mehr. Und während ich, die große Schere kalt in meinem Griff, diesen stinkenden Landstreicher anstarrte, der sich da wand wie ein geprügelter junger Hund, bekam ich zum erstenmal in meinen ganzen zwanzig Jahren ein Gefühl davon, was es heißt, keine Angst zu haben. Aber ich machte ihm Angst, das konnte ich daran erkennen, wie er bei meinen leisesten Bewegungen aufwinselte – doch gab es für mich kein Halten mehr. Ich wollte schreien, ich wollte schreien und mich schief und krumm lachen, und genau das werd ich wohl auch getan haben, als ich da so auf ihn hinabsah: die Augen weit aufgerissen, die Lippen breit gefletscht, und mein ganzer Körper schüttelte sich – in meinem Kopf donnerndes Gelächter, das nur ich zu hören vermochte –, und der Penner, besoffen vor Angst, brummte und brüllte jetzt herum, und plötzlich war mein brennendes Gesicht naß von Tränen und brüllte auch ich, glaub ich, ohne zu wissen warum, und ich erinnere mich, daß ich gedacht hab, daß auch der weiße Christus an seinem Kreuz von Ebenholz weinen mochte, und neue Tränen strömten mir über die Wangen um Ihn, um den Penner, um mich. Um sämtliche elenden Bastarde, die man ans Kreuz genagelt hat.
Ich habe den Geschmack von Salzwasser satt.
Nun sprang, wie eine groteske Marionette, hochgerissen von einer verrückten Hand, ein zweiter, größerer und gemeinerer Hobo aus der Bank vor uns und schnappte mit bestialischem Gebrüll dem armen Schwein das Glas mit dem Fusel weg. Der Dieb lehnte sich an die Bank, warf den gewaltigen Kopf zurück und trank gierig. Der Lahme, gezwungen, auf dem Rücken liegenzubleiben, stellte sein Wimmern ein und wurde boshaft wie ein tollwütiger Hund an kurzer Kette – er knurrte und schäumte und drohte, fletschte die Zähne, fauchte grauenerregend und zeigte seine gespaltene Zunge. Wieder überlief es mich.
»Kike! Du Jude! Christusmörder! Her mit der Flasche! Du dreckige
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