Und die Goetter schweigen
Ziel hinausgeschossen. War es tatsächlich so, dass sie sich nach Hause sehnte? Was würde Sturm sagen, wenn sie erzählte, dass die Frau schon seit neun Jahren tot war? Eine einfache Sache, die man per Telefon erledigt, ehe man sich Hals über Kopf auf den Weg macht, könnte man meinen. Maria ärgerte sich über sich selbst und war sehr enttäuscht. Heute Abend würde sie Freyjas Nachkommen besuchen, dann war es Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Der Ausverkauf zwischen den Feiertagen war in vollem Gange. Überall drängten sich die Frauen in ihren Pelzen mit überfüllten Tüten. Manche hatten ihre Männer im Schlepptau, manchmal gingen die vorweg und bahnten ihnen den Weg. Gelangweilt und schweigend drückten sie sich an den Wänden entlang wie verwelkte Klettergewächse, um in dem Gedränge nicht unterzugehen. Häufig sahen sie auf ihre Armbanduhren, klopften darauf, verglichen sie und klopften wieder. Die Zeit verlor in diesem Ausverkauf ihr hektisches Pulsieren. In der stillstehenden Luft, in den Ausdünstungen von nassen Kleidungsstücken und verschwitzten Körpern hatte sie keinen Schwung mehr und wurde zu einer träge dahinfließenden kaugummigleichen Plage für so manchen. Für andere Menschen, für das andere Geschlecht, sind das Freudentage, wenn alles, was man sich so wünscht, möglich wird. Alles, was man noch nicht einmal begehrt hatte, gab es plötzlich – welch freudige Überraschung – zu annehmbaren Preisen. In diesem kommerziellen Chaos wanderten Patrik und Maria die Fußgängerzone entlang zu dem Kellerlokal, wo das Treffen der Nachkommen Freyjas stattfinden sollte. Ein Bus hielt vorn am Markt, und ein bunter Haufen Leute stieg aus. Aus den Augenwinkeln heraus entdeckte Maria etwas, das sie abrupt stehen bleiben ließ. Auf der anderen Straßenseite stand, mit einem grünen Wollmantel bekleidet, Frau Gunilla Berggren. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Dann war Gunilla Berggren verschwunden. Hinterher konnte sich Maria das Ganze nur so erklären, dass die Frau wieder in den Bus eingestiegen war. Aber in dem Moment, als es passierte, erschien es Maria völlig unwirklich. Die Frau verschwand einfach im Nichts, wie eine Halluzination, hervorgebracht von einem überspannten Hirn. Natürlich hätte sie es Patrik sagen, der Frau nachlaufen oder ihr etwas zurufen müssen. Aber nichts von dem geschah. Maria blieb nur unentschlossen am Straßenrand stehen, und der Bus Nummer 52 glitt aus seiner Haltebucht, fuhr weg und verschwand im Verkehrsstrom.
Das Zusammensein mit Freyjas Nachkommen wurde ganz anders, als Maria es sich vorgestellt hatte. In ihrer Phantasie hatte sie die Leute mit Alphörnern aus Birkenrinde und Trommeln ausgestattet. In Sackleinen gekleidet und mit langen Ketten aus Tierzähnen, sah sie sie im Wald tanzen und schreien. Sie konnte sie in Trance wanken, in Vogelgewändern durch die Luft fliegen und Tierblut auf Holzskulpturen spritzen sehen, wobei sie primitive Laute ausstießen. Die Göttin Freyja stand in der nordischen Mythologie für Wollust, Fruchtbarkeit und Magie. Das beflügelte die Phantasie. Auch Menschen sollen zu ihrer Ehre geopfert worden sein, hatte Morgan gesagt. Die anständigen Damen und Herren, die ordentlich auf ihren Stühlen saßen und Professor Höglund hochintellektuelle Fragen stellten, stimmten mit Marias Vorstellungen überhaupt nicht überein. Das Licht ging aus, und der Professor zeigte Dias aus ganz Nordeuropa, um seine Ausführungen zu ergänzen. Marias Körper wurde schwerer und schwerer, die Augen brannten. Sie rieb sich die Augen, blinzelte, zwinkerte, und schließlich fielen die Augenlider zu. Als das Licht wieder angemacht wurde, kehrte Maria aus den Versteckspielen ihrer Kindheit zurück und stellte fest, dass ihr Kopf an Patriks Schulter lag. Seinen starken Arm hatte er um ihre Schulter gelegt. »Entschuldige«, sagte Maria, »das war nicht meine Absicht.«
»Du bist abgearbeitet, brauchtest sicher mal Schlaf. Das ist doch in Ordnung, völlig o.k.« Maria riss sich zusammen und sah sich geniert um. Kaffee und kleine Kuchen wurden serviert. Die Kassiererin des Vereins überreichte Morgan feierlich ein Kuvert. Maria nahm ihren Mut zusammen und sprach die Frau in dem hellbraunen Leinenkleid an. Sie setzten sich in eine ruhige Ecke des Raumes. Die Frau zeigte sich deutlich enttäuscht, als sie feststellte, dass es weder um eine Spende noch um eine neue Mitgliedschaft ging. »Ich habe von dem Mord bei der Kirche in Gamla Uppsala vor neun
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