Und die Goetter schweigen
musste nochmals anfangen, denn sie hatte sich verwählt. »Was ist denn los?« Kristers Stimme hörte sich unsicher und dünn an. »Ist Linda entführt worden? Das kann doch nicht möglich sein. Wir haben kein Geld! Das muss ein anderes Kind sein, von dem sie in den Nachrichten reden.«
»Es ist Linda. Willst du mal in der Schublade, wo wir unsere Pässe haben, nachsehen, ob etwas fehlt?«
»Wo bist du denn? Weißt du, wo Linda ist? Ich habe geglaubt, du hättest mich verlassen und wieder was mit diesem Patrik Hedlund in Uppsala angefangen«, jammerte Krister. »Ich habe Ek, den mit dem ausgezeichneten Essen, zu dem Rothaarigen sagen gehört, dass er nicht verstanden hätte, was du in Uppsala machen würdest. Da habe ich gedacht, du hast mich verlassen, um dich wieder mit diesem Patrik zu treffen.«
»Nein, ich habe dich nicht verlassen. Ich erkläre es dir später. Tu einfach, was ich dir sage. Schreibtischschublade ganz unten rechts.« Eine Ewigkeit lang warten. Maria biss sich wie rasend in den Daumennagel, bis ins Fleisch hinein. Bald ist nichts mehr übrig für Naglfar, bald habe ich mir wie die Venus von Milo die Arme abgebissen, fuhr es Maria durch den Kopf, und ihr wurde bei diesem Vergleich regelrecht übel. Linda! »Ich finde deinen Pass nicht und Lindas auch nicht.«
»Hast du an der richtigen Stelle gesucht?«
»Ich habe Emils und meinen Pass gefunden. Wo bist du eigentlich?«
»Auf dem Flughafen. Wir kontrollieren gerade die Passagierlisten. Es ist denkbar, dass Berit und Linda Plätze für einen Flug in die Türkei reserviert haben.«
»Weißt du denn, wo Linda jetzt ist?«
»Nein, aber wenn wir richtig Glück haben, tauchen Linda und Berit hier oder auf einem anderen Flugplatz auf. Die Polizei überwacht alle Abflüge, schwerpunktmäßig die in die Türkei.«
»Der Arzt vom Krankenhaus hat angerufen. Linda muss das Penicillin wechseln. Das, was sie bekommen hat, hilft nicht. Es kann ihr richtig schlecht gehen, wenn sie die neue Sorte nicht kriegt, hat er gesagt. Eigentlich wollte er sie jetzt stationär in die Kinderabteilung aufnehmen. Hörst du mich!« Maria nickte, schluckte, bekam aber kein Wort heraus. »Foto«, flüsterte Arvidsson und nahm Maria in den Arm. »Foto.«
»Sieh bitte unsere letzten Fotoalben durch und suche nach einem Foto von Berit.«
»Ich glaube, ich habe ein paar Bilder gemacht, als sie am Tag vor Heiligabend hier war, aber die Fotos sind noch in der Kamera.«
»Ich schicke jemanden, der den Apparat abholt. Wir haben ein Phantombild von ihr, aber ein Foto wäre natürlich besser.«
»Wann kommst du nach Hause? Was kann ich tun?«
»Ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme. Lass Emil nicht aus den Augen, lass ihn bei dir schlafen. Ich muss wissen, dass wenigstens Emil in Sicherheit ist.«
»Ich liebe dich, Maria! Pass auf dich auf. Geh keine unnötigen Risiken ein. Versprich es mir!«
»Ich liebe dich auch.«
31
Disa ballte wütend die Fäuste. Das Auto schleuderte und rutschte bei der hohen Geschwindigkeit, kam auf die Gegenfahrbahn, entgegenkommende Fahrzeuge wurden an den Rand gedrängt. Disa fuhr deswegen nicht langsamer, sah nicht nach hinten. Die Höllenfahrt ging in die Innenstadt. Nur der Gedanke an Rache hatte in Disas Bewusstsein Platz, in jeder Faser ihres Körpers. Freyja hatte sie betrogen, hatte ihr ein fieberndes Bündel statt eines Kindes mit rosigen Wangen übergeben, sich in den Hinterhalt gelegt und sich mit den Feinden verbündet, mit denen, die ihren Brunnen in Besitz genommen hatten. Woher hatte Freyja wissen können, dass sie zum Flughafen wollte? Hatte sie das mit Hilfe von Odins Raben erfahren? Hatte sie seherische Kräfte? Disa raste über die Straßenkreuzung, ohne die Vorfahrt zu beachten. Jetzt war das Maß voll! Um ihrer Ehre willen musste sie sich rächen. Ein Gedanke nahm Gestalt an. Disa hielt an einem Rastplatz dicht außerhalb der Stadt an, öffnete die Kofferraumklappe. Da lag der Reservetank mit Benzin. Sie schüttelte ihn: mehr als halb voll. Ein LKW hielt neben ihnen. Der Fahrer sprang heraus. Vor sich hin pfeifend, pinkelte er in den Schnee und steckte sich dann eine Zigarette an. »Miserable Straßenverhältnisse, an einem solchen Abend sollte man zu Hause in der Sofaecke sitzen.« Disa nickte zustimmend. In langsamerem Tempo fuhr sie in die Stadt hinein in Richtung Smedjegränd. Linda schlief immer noch hinter dem Sitz auf dem Boden. Langsam begann der Schnee wieder in großen weißen Flocken zu fallen. Beinahe
Weitere Kostenlose Bücher