und ein Hund mit Herzklopfen
das letzte Mal getroffen haben – fast ein ganzes Jahr. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich mit dem Erzählen anfangen werde.
Bei Herrn Schiller, meinem crazy Vogel, der rappen kann? Oder sollte ich mich besser über Jonas auslassen? Der war nämlich erst gar nicht nett und dann doch. Er wollte erst überhaupt nicht in der Villa nebenan wohnen bleiben und jetzt hängt er dort immer noch herum.
Klar, ich habe natürlich versucht, Paula per Post auf dem Laufenden zu halten. Aber bei uns ist in der letzten Zeit so viel passiert, dass ich einen ganzen Roman hätte schreiben müssen, um ihr alles zu berichten.
Die Attacken auf Herrn Pfeffer habe ich zum Beispiel komplett weggelassen: Springmäuse im Klavier, Senfkuchen für seine lieben Kollegen an der Schule und Stinkekäfer als Bettgenossen …
Nach diesen Aktionen hätten viele Mütter Paulas Besuch bestimmt ganz einfach abgeblasen. So nach dem Motto: Strafe muss sein! Aber unsere Mama ist einfach die netteste Mutter, die man sich vorstellen kann, und würde so etwas nie im Leben machen.
Manchmal ist es wirklich wie verhext! Ausgerechnet heute Früh bekam unsere Mutter einen echt verzweifelten Anruf eines Bauern aus der Nachbarschaft, dessen junge Kuh kalbte.
Leider scherte sich das Kälbchen, das auf die Welt drängte, gar nicht darum, dass Paula Punkt zwölf mit dem Zug ankommen soll.
Ein Glück sind ja gerade Ferien. Deshalb hatte ich die geniale Idee, Mama vorzuschlagen, dass sie mich auf den Bauernhof mitnimmt, sozusagen als ihre Assistentin. Wenn alles glattgelaufen wäre, hätten wir direkt weiter zum Bahnhof fahren und Paula einsammeln können.
Dummerweise wollten Kassia und Jule aber auch mitkommen.
„Alle auf einmal geht nicht!“, sagte unsere Mutter energisch. „Mit drei von eurer Sorte bei einer schwierigen Geburt werde ich garantiert verrückt!“
Und dabei blieb es. Wir mussten zu Hause bleiben.
Deshalb laufe ich immer noch wie auf glühenden Kohlen von der Küche bis ganz nach oben unters Dach und wieder zurück.
Warum gibt es eigentlich keinen Treppen-Marathon als olympische Disziplin? Den würde ich bestimmt gewinnen.
Alle zehn Minuten schaue ich auf die Küchenuhr. Seltsamerweise sind dann erst höchstens zwei Minuten vergangen. Irgendetwas stimmt da nicht.
„Hast du was mit der Uhr angestellt, Kassi?“, frage ich bei meinem nächsten Boxenstopp.
Kassia schmiert sich gerade in aller Seelenruhe fingerdick Erdbeermarmelade auf ein Butterbrot, sodass kaum mehr was im Glas übrig bleibt. Das macht sie nur, weil unsere Mutter nicht da ist. Die meckert nämlich immer mit uns, wenn wir nicht ordentlich teilen.
„Häh?“, fragt Kassia verständnislos und leckt das Messer ab.
Unsere Mutter sagt, dass Kassia noch frühreifer sei als ich und deshalb mache sie so nervige Sachen wie das mit der Uhr.
Frühreif . Ulkiges Wort. Heißt das, man fällt anschließend wie ein Apfel vom Ast und wird matschig? Wie eklig ist das denn? Eltern legen es oft wirklich darauf an, sich mit ihren Kindern zu streiten. Oder warum sagen sie sonst so seltsame Sachen über sie?
„Hast du die Uhr langsamer gestellt?“, wiederhole ich meine Frage genervt. „Es kommt mir so vor, als ob wir hier schon seit Ewigkeiten warten.“
Kassia setzt diesen gefährlich überlegenen Blick auf, bei dem ich nie weiß, ob ich in der nächsten (echten) Sekunde wie eine Rakete in die Luft gehen oder ihr um den Hals fallen und sie vor Freude abknutschen werde.
„Das ist ein tolles Beispiel für das …“, sie macht eine bescheuerte Kunstpause, um mich länger zappeln zu lassen, „… was Albert Einstein herausgefunden hat.“ Sie strahlt mich an. „Nämlich, dass Zeit relativ ist. Dem einen kommen fünf Minuten wie fünf Sekunden vor, dem anderen wie fünf Jahre. Die Uhr ist total okay. Das ist nämlich eine Funkuhr. Die stimmt immer. Kapiert, Schwesterchen?“
Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man so dermaßen eingebildet gucken kann. Kurz bevor meine Wut-Rakete mit mir abhebt, mischt sich Jule ein.
„Stimmt gar nicht, stimmt gar nicht, stimmt gar nicht! Kassi ist dumm, Kassi ist dumm, Kassi ist oberoberdumm“, trällert sie in einem Kindergarten-Singsang, der signalisiert, dass sie Lust auf Streit hat.
„Und wieso stimmt das nicht, du Zwerg?“, entgegnet Kassia gelangweilt. „Jetzt bin ich ja echt mal gespannt auf deine Weisheiten.“
Jule dreht eine fröhliche Pirouette. „Wenn jetzt fünf Minuten vergangen wären, die in Wirklichkeit fünf Jahre
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