Und ewig seid ihr mein
hier aus konnte der alte Mann durchs Fenster hinaus auf die verkehrsberuhigte Straße sehen, wo schon am frühen Vormittag Kinder spielten.Über sein Gesicht fiel ein Sonnenstrahl, der ihn nicht zu irritieren schien, während er erzählte.
«Brüder?», unterbrach Demandt. «Ich dachte, es handelt sich nur um ein Kind? Frank de Meer. Wegen ihm bin ich hier.»
«Um die Geschichte Franks zu erzählen, kann man Ruben nicht aussparen. Die beiden waren auf eine selbstzerstörerische Art und Weise miteinander verbunden.»
Demandt geduldete sich.
«Sie können sich nicht vorstellen», fuhr Jouwer fort, «welche Feindseligkeit zwischen den beiden herrschte. Um genau zu sein, sie ging von Frank, dem älteren, aus. Im Normalfall ist das nichts Ungewöhnliches, dass sich Brüder streiten, wenngleich der Neid eher bei den jüngeren festzustellen ist. Sie müssen sich als Nachkömmling beweisen, um die Gunst und Aufmerksamkeit der Eltern buhlen.
In diesem Fall jedoch war es umgekehrt. Frank war derjenige, der benachteiligt schien. Er machte seinen Bruder dafür verantwortlich, hasste ihn bis aufs Blut.
Ruben litt darunter. Er war vom ersten Tag an ein verstörtes und verschlossenes Bündel. Im Krankenhaus hatte er nicht ein Wort gesprochen, sagten mir die Ärzte.»
«Wieso Krankenhaus?», unterbrach Demandt.
«Ruben hatte Verbrennungen davongetragen, die behandelt werden mussten.»
«Wovon?»
«Vom Brand … Entschuldigen Sie, das können Sie natürlich nicht wissen. Lassen Sie mich von Anfang an beginnen.»
Demandt nickte, während er einen Schluck Kaffee nahm.
«Ruben war acht oder neun Jahre alt, das weiß ich nicht mehr so genau. Auf jeden Fall hatte er ein schweres Trauma erlitten. Kein Wunder, wenn er mit ansehen musste, was da passiert war.
Es war im Spätsommer gewesen. Die Familie de Meer hatte sich ein Häuschen am Strand von Terschelling, einer dieser westfriesischen Inseln, gemietet. Sie wissen schon, eins von der Sorte, die man schnell und billig für Touristen und Wochenendausflügler hingestellt hatte. Es wurde das Familienfest gefeiert. Was bei den de Meers bedeutete, dass rund ein Dutzend Onkel, Tanten, Neffen und Nichten zusammengekommen waren.
Die Stimmung war ausgelassen, es wurde getrunken und gesungen, bis die Schwester der Mutter auftauchte. Sie war nicht gut gelitten, da sie ein Leben jenseits der Konventionen lebte.»
«Was bedeutete das?»
«Sie hatte sich von ihrem Mann und den Kindern getrennt, um in Amsterdam ihren eigenen Vorstellungen nach zu leben. Das hieß damals, viele Drogen, wechselnde Männerbekanntschaften … Sie wissen schon, das war die Zeit, in der alle nach San Francisco wollten. Freie Liebe und Selbstverwirklichung.
Wer es jedoch nicht bis nach Kalifornien schaffte, ging nach Amsterdam. So auch sie. Sie hatte auf ihre Schwester eingeredet, ihr nach Amsterdam zu folgen. Da deren Mann als Handelsvertreter die meiste Zeit unterwegs war, fühlte sie sich schnell einsam und folgte ihrer Schwester. Sie kam aber immer wieder zurück, da sie es in Amsterdam doch nicht ganz ohne ihre Kinder aushielt. Besonders wegen Ruben, der ihr vom Wesen her glich.»
«Und Frank?»
«Frank war vor diesem Zwischenfall ein stilles Kind. Sehr in sich zurückgezogen, introvertiert. Äußerst sensibel. Ihn hatten die unsteten Familienverhältnisse wahrscheinlich am härtesten getroffen, wenngleich er nicht darüber sprach. Er war das krasse Gegenteil zum Familienliebling Ruben. Sokam es auch, dass Frank immer mehr in Vergessenheit geriet.»
«Wie ist das zu verstehen?
In Vergessenheit geraten.
»
«Kennen Sie den Ausdruck nicht? Bei uns sagt man, dass ein Kind in Vergessenheit gerät, wenn man es nicht wahrnimmt, obwohl es die ganze Zeit um einen herum ist, ohne dass man bewusst etwas von ihm hört oder sieht. In dieser Familie, in der die Streitigkeiten im Laufe der Jahre zugenommen hatten, konnte man sich nur als existent bezeichnen, wenn man sich lautstark an den Diskussionen beteiligte. Aber nicht Frank. Er war der vergessene Sohn der Familie de Meer. Er hatte sich in seine Traumwelt zurückgezogen. Eine Welt, in der es keinen Streit gab und in der Vater und Mutter sich liebten.
Frank wusste nicht einmal, ob er jemals von seiner Mutter angefasst worden war. Können Sie sich das vorstellen? Ein Kind wächst ohne körperliche Nähe zu seiner Mutter auf. Damit war der seelischen Verwahrlosung Tür und Tor geöffnet. Es musste also früher oder später zwangsweise zur Explosion
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