Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
Vom Netzwerk:
Übels
     
    AH HERR straffe mich nicht in deinem Zorn vnd züchtige mich nicht in deinem grim. HERR, sey mir gnedig, denn ich bin schwach. Heile mich HERR, denn meine gebeine sind erschrocken. Vnd meine Seele ist seer erschrocken. Ah du HERR, wie lange? Wende dich HERR vnd errette meine Seele. Hilf mir vmb deiner Güte willen. Denn im Tode gedenckt man dein nicht. Wer will dir in der Hölle dancken? Jch bin so müde vom seufftzen. Jch schwemme mein Bette die gantze nacht. Vnd netze mit meinen Threnen mein Lager.
    Altes Testament, Psalm 6
     
     
    Dort ist sie, vor der Reihe von Männern, die aus dem Finsteren Gang gestolpert sind und nun vor ihr stehen, die sehnsüchtigen Augen auf die schöne junge Frau gerichtet, die ihrerseits unverfänglich freundlich lächelnd auf sie herabblickt. Gedankenverloren greift ihre Hand nach hinten, nach dem Zopf auf ihrem Rücken, holt ihn nach vorne.
    Fasziniert sieht Arno ihre Finger die weichen Strähnen auseinandernesteln, sich hindurchwinden. Er will die Hand ausstrecken, um es zu fühlen – ist das Sünde, ist das schon Sünde, wenn er einfach nur ...?
    Georg! Georg Flüger ist plötzlich aufgetaucht. Wieso er? Arno hat ihn doch aus dem Weg geräumt!
    Er aber ist es – und er, er streckt seine Hand nach Mathilda aus und ...
    Nein, das darf er nicht, nein!
    Doch noch während Arno vorwärts stürzt, dreht Mathilda sich um und schüttelt den Kopf. Sie lächelt, freundlich, wie sie es immer tut – aber sie schüttelt ihren Kopf und wendet sich wieder ab. Der Junge ist erstarrt, lässt einen Apfel sinken, den Arno in seiner Hand gar nicht gesehen hat.
    Aber Mathilda will ihn nicht, nicht den Apfel und nicht den Jungen, sie will ihn wirklich nicht. Sie steht noch immer dort, ihr Haar fließt wie ein glänzender Umhang um Schultern und Rücken – und die Augen aller Männer – aufgereiht an der Kirchenmauer – ruhen auf ihr. Voller Hunger. Atemlos gespannt, wen sie wählen wird.
    Was soll diese Posse? Wie hat man das zulassen können, dass eine Frau mitten unter die Mönche geraten ist? Hier darf niemand gewählt werden, hier darf niemand wählen, jeder hier ist ein Diener Gottes. Es kann doch nicht sein, dass eine Frau daherkommt und alle in gewöhnliche Männer verwandelt!
    Er will weg, Arno will weg, er reiht sich nicht dort ein, er bringt sich in Sicherheit und lebt sein Leben für Gott.
    Warum steht er dann noch immer hier, ohne sich zu rühren, warum kleben seine Füße hier, warum?
    „ARNO! ARNOOOOO!“
    Er fährt herum. Erstarrt von Neuem. Dort, hinter ihm ...
    NICHT SIE, von allen Frauen der Welt, OH BITTE, NICHT SIE, GOTT, VERGIB MIR ...
    Die andere Frau fällt, ein Grab hat sich aufgetan, und sie fällt, fällt ...
    ... und Arno müsste sie halten, retten, er ist es, dessen Pflicht es ist, sie zu retten.
     
    „NEIIIN!“
    Er saß. Sein Herz so rasend, als ob er rannte, doch er war nur in seinem Bett und schnappte mühsam nach Luft.
    Bitte nicht sie. Nicht Rosa. Alles, nur nicht ...
    Auch die Andere nicht, die zum Glück bereits in den Hintergrund gerückt war, verdrängt vom offenen Grabe.
    Oh Gott, wie doppelt grausam willst du mich prüfen?
    Um Rosa ging es. Nicht um Mathilda und nicht um Aurelia. Die ganze Zeit schon war es in Wahrheit um Rosa gegangen. Arno hatte es nur nicht sehen wollen. Aber es war ganz einfach. Gott verlangte von ihm, sich mit seiner alten Schuld auseinanderzusetzen.
    Gut, dann würde er das tun. Sprang hastig aus dem Bett und kniete sich vor den Herrn, die seinen nachtbehemdeten Körper ergreifende Kälte dankbar willkommen heißend. Ebenso wie die Worte des neunundsechzigten Psalmes, die er seit damals auswendig konnte.
    „Gott, hilf mir!“ Er musste sich räuspern, weil ihm die Laute buchstäblich im Hals stecken blieben. Begann von Neuem:
    „Gott, hilf mir!
    Denn das Wasser geht mir bis an die Seele.
    Ich versinke in tiefem Schlamm,
    da kein Grund ist;
    ich bin im tiefen Wasser,
    und die Flut will mich ersäufen.
    Ich habe mich müde geschrien,
    mein Hals ist heiser ...“
    Er hustete wieder. Damals ... damals hatte ihm dieser Psalm geholfen. Hatte ihn ergriffen, ihn aus diesem Sumpf herausgezogen, ihm schließlich eigene Worte entlockt, reuige, sühnende. Die ihn nicht reingewaschen hatten. Von einer Todsünde reingewaschen zu werden, war unmöglich. Doch sie hatten ihn geläutert, ihn gestärkt gegen seine Schuld, starkgemacht für ein Leben danach.
    „... und meine Schuld ist dir nicht verborgen ... meine Schuld dir nicht

Weitere Kostenlose Bücher