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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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der Klostermauer.
    Es war kindisch, doch ein geheimnisvoller innerer Zwang zog Arno vom Wege, brachte ihn dazu, seine Hand auszustrecken und die gekalkte Mauer zu berühren. Innezuhalten. Und es wirkte. Als ob die Festigkeit der Steine neue Kraft durch seinen Körper und seinen Geist strömen ließ, fiel es ihm plötzlich viel leichter, sich zu besinnen und eine zweckmäßige Reihenfolge in seine Pläne zu bringen.
    Vor allem anderen musste er mit Mathilda sprechen – denn alles, was er der Örtlerin sagen würde, durfte sie in keiner Weise mit hineinziehen. Das hieß, dass er sie 'nachher' nicht mehr würde sehen können. Folglich musste er vorerst in seiner Rolle bleiben, so tun, als ob er wirklich zurückkehrte, bis sie heute Nachmittag zu ihm in den Unterricht kommen würde.
    Das ließ ihm Zeit, sich auch noch anderweitig zu verabschieden. Von Heussgen, aber auch von Benjamin und Preuß, von Hartwig und Georg. Was der Junge wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass Arno an dem gescheitert war, was er selbst erfolgreich bewältigt hatte?
    Arno schnaubte ein trauriges Schnauben, lenkte den Wallach wieder auf den Weg und machte sich auf, um das Kloster herum, um das Tier abzugeben und sich dann offiziell zurückzumelden.
    „Ave Maria, Pater Arno“, wurde er von der freundlichen Laienschwester an der Pforte empfangen. „Wie schön, dass Ihr zurück seid!“
    Er nickte ihr zu. „Gebt Ihr bitte der Mutter Örtlerin Bescheid?“
    „Sie ist gerade in einer wichtigen Unterredung im Redhaus. Soll ich sie holen oder um einen Termin danach bitten?“
    „Es reicht, wenn Ihr sie später belästigt“, mäßigte er rasch ihren Diensteifer. „Ich würde ohnehin erst gern meine Sachen in meine Kammer bringen und mich frischmachen. Ich werde nach dem Essen wiederkommen.“
    Dankbar dafür, offenbar mitten in der vormittäglichen Arbeitszeit gekommen zu sein, eilte er durch die leeren Gänge des Konvents. Warf sein Gepäck einfach in die Kammer und war, ohne sich bewusst dazu entschlossen zu haben, auf dem Weg zum Eingang in den Männerchor. Jetzt, wo er erkannt hatte, kein Priester mehr zu sein und seine Kirche zum letzten Male zu betreten, wäre es doch möglich, dass Gott ihm gewährte, auch von ihm Abschied zu nehmen? Von dem Platz aus, den Arno all die Zeit hier innegehabt hatte. Oder unten, kniend vor dem Beichtstuhl. Aber das würde er dann sehen.
    Leise schlüpfte er in den kleinen Raum des Männerchores – und blieb, die Tür im Rücken, erst einmal stehen. Atmete ein, so tief seine Lungen es erlaubten – als könnte er sich auf diese Weise den geliebten Ort einverleiben, ihn für immer mitnehmen, wohin er danach auch gehen müsste.
    Langsam strichen seine Hände über die Holzvertäfelung. Wie wunderbar glatt sie war. Wie makellos verarbeitet. Musste er erst zum letzten Mal hierher kommen, um sich die Zeit zu nehmen, dies alles wirklich wahrzunehmen?
    Oh ja, er würde es vermissen, hier zu sein, seinen Platz, die Horen mit ihren gemurmelten, gesungenen oder gesprochenen Psalmen, den feierlichen Gesten. Alles!
    Ohne es bemerkt zu haben, war er an den Altar getreten. Seine Hand verharrte, ehe sie das Türchen des Tabernakels berühren konnte. Ich bin kein Priester mehr , dachte er. Nie mehr werde ich die Kommunion erteilen, nie mehr predigen, nie mehr die Psalmen singen, nie mehr ...  
    Was stimmte nicht? Verwirrt blickte er sich um. Töne. Melodie. Verse. Da sang jemand. Er hatte es nicht bemerkt, doch plötzlich war die Luft erfüllt von Gesang. Von wunderschönem, glockenreinem Gesang. Unendlich traurig, aber überirdisch schön ...
    „Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht,
    weil man täglich mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
    Wenn ich denn in mich gehe,
    so schütte ich mein Herz aus bei mir selbst ...“
    Sie ist es. Mathilda. Ihre Stimme, ihr Lied, ihre Tränen.
    Alles in ihm hatte sich zusammengezogen, während seine Beine ohne sein Zutun an die Brüstung stürzten, ehe er sich zurück riss, aus ihrem Blickfeld taumelte. Sein Herz schlug bis zum Hals. Da war sie, dort drüben auf dem Balkon der Laienschwestern, ganz still, ihre Hände hinter sich an der Wand und ließ ihre Stimme bis in den letzten Winkel der Kirche dringen.
    „Was betrübst du dich, meine Seele,
    und bist so unruhig in mir?
    Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir ...“
    Sie hatte einen Vers ausgelassen, nur ihre betrübte Seele war übrig.
    „Warum hast du mein vergessen?
    Warum muss ich so traurig gehen ...“
    Starr

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