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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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merkwürdiger Stimmung, fand Mathilda. Ärgerte er sich vielleicht, weil Bruder Georg nicht gelernt hatte? Aber hatte der nicht einen guten Grund genannt? Einen sehr nachvollziehbaren sogar, wie sie fand. Würde Pater Arno ihr eine Vokabelliste auftragen zu lernen, sie hätte Schwierigkeiten damit. Bis jetzt hatte sie noch keinen Zeitpunkt gefunden, außer ... dem Abend.
    Das schlechte Gewissen packte sie sofort. Gestern Abend hatte sie das Silentium verletzt – mit Katharina. Dass niemand es mitbekommen hatte, so laut, wie sie teilweise gewesen waren, war eigentlich ein Wunder – in Zukunft musste sie wirklich vorsichtiger sein. Oder sollte sie Katharina bitten, nicht mehr zu kommen? Doch dann fiel ihr ein, wie schlecht es ihr gegangen war, dass sie eine Freundin gebraucht hatte. Jemanden, der ihr zuhörte. Das konnte doch einfach keine Sünde sein, auch wenn es gegen die Regel verstieß.
    Genau wie Georgs freundschaftliche Geste, ihr heute Mittag den Apfel zu schenken. Sie warf einen Blick auf ihn, der sich mit roten Ohren über seine Aufzeichnungen gebeugt hatte. Dafür wollte sie sich unbedingt noch bedanken. Dass auch er bereit gewesen war, eine Regel für sie zu brechen ...
    Als er just in diesem Moment aufsah, lächelte sie ihm zu. Danke , blitzten ihre Augen. Was er nickend und errötend erwiderte. Er war ein wirklich sehr freundlicher junger Mann, auch wenn er mit seiner hellen Haut und den arglosen blauen Augen eher wie ein zu groß geratener Junge wirkte. Er konnte sich glücklich schätzen, sein Noviziat bei einem so vernünftigen Novizenmeister wie Pater Arno zu verbringen. Der daran interessiert war, dass seine Schüler möglichst viel lernten. Ob Georg so etwas wie eine Studierzeit hatte? Er hatte erwähnt, dass er durch die Apfelernte am Lernen gehindert worden sei. Das musste ja dann wohl die Zeit sein, in der er sich sonst vorbereiten konnte.  
    Ob sie das auch bekommen würde, Studierzeit? Doch dass die Äbtissin bereit wäre, ihr noch mehr Freiraum zu lassen, hielt sie für mehr als unwahrscheinlich. Immerhin lief Mathilda schon jetzt außerhalb so vieler Regeln des Frauenkonvents – für die Nonnen doch ein Albtraum.
    Davon abgesehen, dass Mathilda zumindest jetzt im Herbst als Arbeitskraft unverzichtbar war. Auch morgen würde man alle Erntehelfer noch einmal brauchen, hatte Hofbruder Glaubrecht, ein schon etwas älterer Laienbruder mit mächtigem Bauch und ebenso mächtiger Glatze, die in der Sonne schweißfeucht geglänzt hatte, heute Mittag verkündet. Nicht, dass sie etwas gegen die Arbeit einzuwenden hätte. Aber der Unterricht würde flotter voranschreiten, wenn sie mehr Zeit zur Vorbereitung bekäme.
    Von den Männern schien Pater Arno das ja auch zu erwarten. Wie hatte er es ausgedrückt? 'Die Schüler verpflichten sich zu lernen, und wenn sie es nicht tun, schließe ich sie vom Unterricht aus.' Dies war die Regel, die hier galt. Und die Mathilda liebend gern einhalten würde. Ja, genau darin lag der Unterschied zwischen Nonnen und Mönchen, wie ihr schien. Dass man den Männern zugestand, sich für eine Sache zu entscheiden. Während die Frauen blind gehorchen sollten.
    Mathilda schreckte aus ihren Gedanken auf. Was tat sie hier gerade? Sie sollte jetzt schleunigst anfangen zu übersetzen – und nicht Pater Arno reizen, indem sie träumte. Sie blickte auf das Inhaltsverzeichnis. Wo genau war sie gestern stehengeblieben? Ah da, drittes Buch, Kapitel zweiundvierzig.
    'Deinen Frieden ... sollst du bauen ... nicht bauen ... auf Menschen'. Was sollte das denn bedeuten? Dass man nur auf Gott hoffen sollte, wenn man mit irgendetwas oder irgendjemandem uneins war? Und nicht darauf, bei Freunden Kraft und Verständnis zu finden? War es demzufolge gestern falsch gewesen, mit Katharina zu reden?  
    Am liebsten hätte Mathilda das Kapitel sofort aufgeschlagen und nachgelesen, ob ihre Befürchtung stimmte. Aber das war jetzt nicht ihre Aufgabe. Sie hatte das Inhaltsverzeichnis zu übersetzen. Später würde sie – mit Pater Arno zusammen – hoffentlich dazu die Gelegenheit haben. Und mit etwas Glück könnte sie ihn ja auch fragen, wie er dazu stehe. Er war der ideale Ansprechpartner für derlei Fragen, lebte er doch offenbar ein Leben, das diesen göttlichen Maßstäben gerecht wurde – und war zugleich durch und durch rational und kritisch. Vielleicht würde sich dann auch seine merkwürdige Laune verflüchtigen, sodass sie beide wieder ein so schönes, ruhiges Gespräch führen könnten.

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