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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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Bewegungen Mutter Örtlerins waren abwehrend und genervt.
    Worum es wohl ging? Mathilda, die sich auf ihren Platz zurückgezogen hatte, ließ ihre Augen durch den Saal streifen.
    Die Chorfrauen, in einer Reihe neben ihr, konnte sie leider nicht allzu gut beobachten. Doch auf die Laienschwestern an den kurzen Wänden hatte sie freie Sicht. Wer sah denn gelassen und ruhig aus, wer wirkte nervös?
    Besonders eine kleine Laienschwester in den mittleren Jahren fiel ihr auf. Sie saß da und rang unruhig die Hände.
    Gut, also die. Was sie wohl auf dem Kerbholz hatte?
    Katharina kam, wie immer, reichlich spät. Aber sie huschte auf ihren Platz neben Mathilda, ehe sich die Äbtissin, nachdem die Schönin von ihr abgelassen hatte, ihrem Stuhl zuwandte und nach der Glocke griff. Sie klingelte, trat nach vorn, in die Mitte des Saales, und bekreuzigte sich: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
    „Amen!“
    „Heute ist Donnerstag, der zwanzigste Oktober“, wiederholte sie die ersten Worte der Lesung vom Mittagessen. „Wir haben uns hier im Kapitelsaal zum dieswöchigen Schuldkapitel versammelt. Zuerst jedoch die allgemeinen Ankündigungen.“
    Sie wartete einen Moment und fuhr dann fort: „Wie ich von Bruder Glaubrecht erfahren habe, ist die Apfelernte noch immer nicht abgeschlossen. Weil aber das Wetter umzuschlagen droht, muss sie jetzt schnellstmöglich beendet werden. Deswegen werden alle bisherig dafür eingeteilten Schwestern, die den morgigen Vormittag nicht zur Beichte nutzen, erneut bei der Ernte helfen, die auch am Nachmittag fortgesetzt wird.“
    Mutter Örtler schwieg einen Moment, während sie ihren Blick über die Reihen der Nonnen gleiten ließ:
    „Am Montag ist Waschtag für die Leibwäsche. Bei Schwester Jordanin ...“, und damit warf sie der einen Blick zu „... kann alle Wäsche abgegeben werden.“
    Dabei stand sie völlig reglos, fast wie eine Statue, fand Mathilda. Sie betrachtete die Äbtissin genauer. Sehr viele Falten hatte sie noch nicht, wirkte aber so ... angestrengt, irgendwie, als müsste sie sich pausenlos darum bemühen, ernst und ehrwürdig zu sein. Mathilda hatte keine Ahnung, ob dem wirklich so war, aber sie hatte immer das Gefühl, dass die ältere Frau eigentlich lieber gelacht hätte, sich das jedoch verkniff, weil es einer Äbtissin nicht stand. Ob es auch sie Überwindung kostete, die Klosterregeln zu befolgen? Oder hatte sie das lange hinter sich gelassen? Aber wäre sie dann so? Unentspannt? Wie lange mochte sie schon im Kloster sein? Bestimmt schon sehr lange. Mathilda konnte nicht umhin, sich ihren Schleier wegzudenken. Wie ihre Haare darunter wohl aussehen mochten? Viele waren es mit Sicherheit nicht mehr, so stramm, wie sie den weißen Unterschleier auf dem Kopf gespannt hatte. Mit einem Mal wünschte Mathilda sich nichts sehnlicher, als niemals einen Schleier tragen zu müssen.
    Die Äbtissin hob erneut das Glöckchen und klingelte. „Lasst uns den Segen für das kommende Schuldkapitel erflehen.“
    Die Nonnen knieten sich hin, falteten die Hände zum stummen Gebet. Mathilda, die nicht damit gerechnet hatte, beeilte sich, es ihnen gleichzutun.
    Als das Glöckchen wieder erklang, raschelte Stoff, knackten Knie, knirschten Schuhe über den Fußboden. Alle setzten sich wieder. Jetzt war es soweit.
    „Gibt es jemanden, der etwas zu sühnen hat?“
    Es dauerte einen atemlosen Moment, aber dann sprang die nervöse Laienschwester auf: „Ich bekenne mich schuldig, heute zwei Teller zerbrochen zu haben.“
    Und damit sank sie, wie Katharina und Schwester Jordanin zwei Tage zuvor, auf den kalten Steinboden, wo sie schließlich bäuchlings und mit weit von sich gereckten Armen liegenblieb.
    „Ich bekenne mich schuldig, heute während Vigil eingeschlafen zu sein.“ Mutter Hutterin, die ehemalige Äbtissin, war aufgestanden und ließ sich ächzend und umständlich auf die Knie nieder. Dann schien sie nicht mehr so recht weiterzukommen und reckte hilflos eine Hand nach hinten. Die Nonne, die neben ihr gesessen hatte, sprang auf und half ihr, sich ebenfalls bäuchlings auf den Boden zu legen.
    Mathilda war entsetzt. Nicht nur über die in ihren Augen nichtigen Anlässe für diese Selbstanklagen, sondern vor allem darüber, dass es völlig selbstverständlich schien, auch uralte Menschen sich auf den Boden quälen zu lassen.
    Doch sie wurde von der nächsten Anklage abgelenkt.
    Schwester Jordanin war aufgestanden. Mathilda hörte Katharina neben sich

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