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Und führe uns nicht in Versuchung: Kriminalroman (German Edition)

Und führe uns nicht in Versuchung: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Und führe uns nicht in Versuchung: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hanika
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möglichst schwer mit der Verfolgung hatte, wenn er sich bei mir entschuldigen wollte, nahm ich eine Abkürzung quer über die Lichtung und stolperte bei jedem zweiten Schritt über dorniges, stacheliges Gebüsch. Hier gab es mehr Berberitzen und Schlehen, als es in einem Wald geben sollte. Meine Beine waren nach kürzester Zeit so zerkratzt, dass ich hätte heulen können. Dafür hatte ich überhaupt kein Bedürfnis mehr, mich zu übergeben. Vielleicht lag es auch daran, dass ich nichts mehr im Magen hatte.
    Am meisten ärgerte mich aber, dass Max mir nicht folgte. Ich hatte es mir richtig schön ausgemalt, wie er in alle Dornen hineinstolperte, die auch meinen Waden zusetzten. Und wie er mich am Schluss, vollkommen fertig von dem Marsch durch den Wald, in die Arme schließen und um Verzeihung bitten würde.
    Für einen Moment hatte ich nicht genügend aufgepasst. Meine Füße verhakten sich so gründlich in etwas, dass ich ungebremst auf dem Boden aufschlug. Ich war ziemlich froh, dass ich genau an dieser Stelle gefallen war. Weil ich nämlich in einen stachelfreien Hartriegel gerauscht war. Und auch das, worüber ich gestolpert war, war Gott sei Dank keine Berberitze, denn es hatte ebenfalls keine Dornen.
    Das mit dem Gott sei Dank nahm ich in der nächsten Sekunde wieder zurück. Denn als ich mich wieder aufrappelte, sah ich, was mich zum Stürzen gebracht hatte.
    Es waren zwei lange, unbestrumpfte Frauenbeine.
    Eine Singdrossel sang klar und laut ihr Lied. Eine ständige selbstvergessene Wiederholung dessen, was sie schon zuvor gesungen hatte und auch die nächste Stunde immerzu singen würde. Nach dem letzten Regen war das Gras über Nacht gewachsen. Die Büsche vor dem Wald waren jetzt hellgrün, und über mir sausten Unmengen von Distelfaltern in den Wald hinein. Einer nach dem anderen, als hätten sie ein ganz konkretes Ziel.
    Ein Zilpzalp zwitscherte sein ewig gleiches Gezilpe, was mich ein wenig beruhigte. Man konnte sich einbilden, es wäre ein ganz normaler Tag. Mit einem ganz normalen Zilpzalp-Gezilpe.
    Ich saß am Waldrand und wusste, dass mich ungefähr dreihundert Meter von dem Grauen trennten. Ich versuchte, es zu vergessen, und hörte auf die vor sich hin schwätzende Heckenbraunelle. Ich betrachtete die trockene Wiese vor mir – die Kartäusernelke leuchtete pinkfarben aus dem dunklen Grün, aufrecht reckte der Ziest seine cremefarbenen Blüten nach oben.
    Als es hinter mir knackte und raschelte, drehte ich mich etwas zu schnell um. Die Schlehen hinter mir waren schon längst verblüht. Vor meinen Augen verschwammen für einen Moment die alten grauen Stämme der Fichten, beschirmt von den graugrünen Nadeln. Dann sah ich wieder klar.
    Ich hörte Max hinter dem Schlehengebüsch fluchen. Im nächsten Moment tauchte er neben mir auf. Ich runzelte angestrengt die Stirn, um nicht gleich loszuheulen.
    Max ging neben mir in die Hocke.
    »Na«, sagte er freundlich.
    Er erwähnte mit keinem Wort, dass ich mich an diesem Vormittag nun schon zum dritten Mal übergeben hatte.
    Ich zuckte nur mit den Schultern. Was sollte ich jetzt dazu sagen? Ich war vom Schicksal auserwählt, Leichen zu finden. Und wenn irgendwo mehr Leichen herumlagen, dann fand ich die auch. Eine nach der anderen. Und wenn da noch mehr lagen, dann fand ich jede einzelne.
    »Wie viele habt ihr noch gefunden?«, fragte ich besonders würdevoll. Ich wollte mir nichts nachsagen lassen. Auf keinen Fall wollte ich als hysterisch gelten, auch wenn ich das vielleicht war.
    Max sah mich ein wenig betrübt an. Vielleicht, weil sie keine weiteren gefunden hatten. Vielleicht, weil ich ihm leidtat. Vielleicht auch, weil er Hunger und Durst hatte und sich mit zwei Leichen im Wald herumschlagen musste.
    »Keine weiteren«, sagte er mit seiner zartfühlendsten Stimme.
    »Ein Massenmord«, sagte ich düster. Das nimmt noch ein schlimmes End, würde Großmutter sagen.
    Eine Weile sagten wir gar nichts, sahen auf die Wiese vor uns, in der die hohen Gräser leicht im Wind wippten. Der Thymianduft der Wiese konnte jedoch den metallischen Blutgeruch nicht aus meinem Gedächtnis vertreiben.
    Max hatte sich neben mich gesetzt und mir den Arm um die Schultern gelegt. Ich wartete darauf, dass er irgendetwas sagte. Arme Lisa, zum Beispiel. Schon wieder ein paar Leichen. Stattdessen sahen wir auf den Maisacker vor uns und schwiegen wie ein altes Ehepaar vor dem Fernseher.
    Ich hörte Schorsch niesen und – offensichtlich keineswegs durch den Leichenfund belastet

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