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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rank
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unbeweglich. Wie lange er da wohl schon gelegen haben mochte? Mein Blick wanderte zum Auto und von dort auf ein Windrad, auf meine Füße, zu ihm, in den Himmel. So stand ich eine Weile, er kam langsam zur Ruhe, und als er zum ersten Mal seit unserer seltsamen Begegnung wirklich still hielt, bewegte sich Lene im Wagen. Ich war immer noch bei Schritt 32 und sah, wie sie sich die Augen rieb. Dann rannte ich. Schnaufend kam ich am Wagen an, sie hob gerade ihre Füße auf den Rasen und fragte: »Wo warst du?« – »Nur ein Stück gegangen, ich war nicht weit weg.« Ich hockte mich vor sie und legte meinen Kopf auf ihre nackten Knie. Sie legte ihre Hände auf mein Haar, ihre kalten Finger in meinen warmen Haaren. Und ihre Fingernägel sahen nicht aus wie die eines Mädchens aus der Stadt. Von oben tropfte eine Träne auf meine Nase und rollte die Wange herunter. Dort hinterließ sie ein Kitzeln, einen Streifen, der ein bisschen kälter war als der Rest des Gesichts. Lene konnte noch immer weinen, ich hatte das Gefühl, schon völlig leer zu sein. »Dahinten liegt ein Fuchs«, sagte ich und setzte mich auf den Boden. Ich zogdie Schuhe und die Socken aus, rieb mir die Fersen, wackelte mit den Füßen. Ein bisschen Erde klebte sofort an meiner Fußsohle. Nach und nach rupfte ich ein paar Grashalme mit großem Zeh und Zeigezeh aus dem Boden. Lenes Beine standen neben meinen Schultern wie zwei kräftige Arme, sie zog Rotz die Nase hoch. »Wie – da liegt ein Fuchs?«, fragte sie verwundert. »Ich bin eben ein Stück den Weg da hinunter gegangen, und da liegt ein Fuchs am Waldrand, der kann seine Hinterbeine nicht mehr bewegen und kommt nicht vom Fleck. Vielleicht stimmt auch was mit seinen Vorderbeinen nicht, jedenfalls liegt er da und guckt. Ich bin beinahe auf ihn drauf getreten.« – »Du bist was?«
    Lene kletterte über mich und aus dem Wagen hinaus, sie rieb sich die Hände an ihrem Kleid ab, und ich folgte ihr den kleinen Weg bis zu dem rotbraunen Fellknäuel, das jetzt wieder fauchte und dem Speichel aus dem Mund lief. »Ich glaube, er hat Durst«, sagte Lene, und ich legte meine Hände auf ihre Hüfte. Sie war warm.

    Auf dem Weg ins nahe Dorf arbeitete Lene an ihrem Gesicht. Mit dem Finger zog sie sich die Augenbrauen nach, strich ein paar Mal über ihre Schläfen, klopfte mit den Fingerkuppen darauf herum. Sie zupfte sich den Pony aus der Stirn, klatschte sich mit den Handflächen auf die Wangen und schien selber bemerkt zu haben, wie blass sie war. Laut überlegte sie, was wir nun tun sollten, als sie kleine Hautfetzen aus ihrem Mundwinkel riss und aus dem Fenster schnippte. Jemanden nach dem Förster fragen. Die Polizeialarmieren, die seien doch hier auf dem Land vielleicht für so etwas zuständig. »In der Stadt nicht?«, fragte ich. »Da jagen sie Gangster, schreiben Falschparker auf, schimpfen höchstens über tief fliegende Tauben und verknacken die dazugehörigen Omis mit Futtertüte.« Sie beugte sich nach hinten, um die Decke hervorzuzerren, in die man das Tier hätte wickeln können. Ihre Finger lagen auf ihrem Schlüsselbein, ich fand sie sehr schön. Ihre Haltung erinnerte mich ein bisschen an meine Großmutter, die immer unglaublich um uns besorgt gewesen war. Bei jedem Waldspaziergang, wenn ich an Büschen und Sträuchern zerrte, Äste abrupfte oder in Pfützen hüpfte, zählte sie die Folgen einer Tollwuterkrankung auf, so oft, dass meine Cousinen und ich diese manchmal in unsere Handklatschspiele mit einbauten, bei denen man sich gegenübersteht, die Handflächen mit dem ausgestreckten Arm von sich weg hält und beginnt, sich in den abstrusesten Reihenfolgen abzuklatschen. Dazu sagte man Sprüche und Wortfolgen auf. Wer sich von Großmutters benannten Krankheitsbildern mehr gemerkt hatte, gewann. Wer nicht weiterwusste, war der Verlierer. Und irgendwann begannen wir Kinder damit, uns weitere schlimme Symptome wie das Wachsen von Tierkörperteilen oder bunte Flecken auf Armen und Beinen aus den rot geklatschten Fingern zu saugen, um zu gewinnen. Irgendjemand verlor im Laufe des Spiels meistens die Lust, der Gewinner triumphierte. Der andere hatte etwas Neues gefunden, das seine Aufmerksamkeit fesselte, und es war ihm egal. Wenn sich niemand ärgerte, schmälerte das den Sieg, und irgendwann hörten wir auf mit diesem Spiel und lasenschweigend die Bravo auf der Schaukel hinter dem Haus, bis man uns zum Essen rief.
    Als wir das Ortsschild passierten, richtete sich Lene in ihrem Sitz auf, zeigte auf

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