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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rank
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so seltsam – ich kann doch nicht plötzlich die sein, deren Freund überfahren wurde, ich bin das nicht und kann dennoch nichts daran ändern, dass mein Inneres plötzlich nicht mehr mit dem Äußeren übereinstimmt. Ich sehe ihn doch noch, ich rieche ihn noch, ich habe die Nummer in meinem Telefon, ich fühle mich, als könnte ich jeden Moment nach Hause zurückfahren und bei ihm klingeln, er würde öffnen und mich in den Arm nehmen und Kaffee kochen und ich würde ihm dann von dem Fuchs erzählen.« Lene weinte lautlos und fiel nach hinten um. Ich legte meinen Kopf neben ihren, und die Unterlage erzitterte unter dem Zittern ihres Schluchzens, das niemand hören konnte. Das ich nur spürte, weil das Tuch sich bewegte, weil sie ihre Bauchmuskelnanspannte und ihren Hals, um kein Geräusch zu machen. Sie zog die Nase hoch und sagte: »Ich kann nicht mehr in die Alpen fahren, ich kann keine Musik mehr hören, ich kann nicht einmal mehr Socken anziehen, ohne dass er irgendwie dabei ist, weil es sein könnte, dass das gar nicht meine, sondern seine Socke ist, oder ich denke daran, dass sie in seiner Wohnung lagen, dass meine Füße unter seinem Pullover steckten, dass er sie auf die Heizung gelegt hat, damit sie warm werden am Morgen oder bestimmt noch fünf davon unter seinem Bett liegen. Eigentlich müsste sich alles verändern, damit es irgendwie weitergehen kann. Die Mensa müsste schließen, sie müssten den Fernsehturm abreißen und die Modersohnbrücke. Aber es wird doch niemand den Sommer abschaffen und den Herbst und den Winter, und deswegen halte ich es nicht aus, jede Minute denke ich, ich halte das nicht aus.« Lenes Magen knurrte, ihre Bauchdecke bewegte sich schnell auf und ab. Ihr Gesicht drehte sich an meine Seite, ihre Nase berührte meinen Hals, nass und kalt. Ich sah zu, wie weiße Kondensstreifen scharf in den Himmel schnitten und sich hinten wieder auflösten.
    Ich weiß nicht, wie lange wir geschlafen hatten, aber meine Stirn fühlte sich heiß an, als ich aufwachte. Langsam setzte ich mich auf, ein Stück entfernt hatte sich eine Gruppe Jugendlicher versammelt, jünger als wir, alle mit nackten Beinen, ein paar barfuß. Ihr johlendes Gelächter drang bis zu uns herüber, das Funkeln des Wassers zwischen den Baumwipfeln hatte sich nicht verändert, aber mir lief der Schweiß in Strömen, und mein Hals war trocken. Ich blickte zu Lene, sie atmete ruhig und gleichmäßig, Strähnen vonHaar lagen quer über ihrem Gesicht. Sie sah aus, als habe man sie gerade vom Grund eines Sees gezogen und in der Sonne trocknen lassen. Als ich mich bewegte, wachte Lene auf, rieb sich die Augen und schaute missmutig umher. Das Muster der Sprungfläche hatte sich in ihre Wange gedrückt in zentimetergroßen Quadraten. Mein Bein war eingeschlafen, humpelnd ging ich ein paar Schritte. Weit weg über den Bäumen türmten sich ein paar graue Wolken. Als ich mich nach Lene umschaute, federte sie auf dem Trampolin ein wenig auf und ab. Sie sah fehl am Platz aus, vielleicht war es auch nur ihr Gesicht, aber in dem Moment gab es nichts, das trauriger hätte sein können als dieses Mädchen – und manchmal musste ich mir wirklich ins Gedächtnis rufen, dass dieses traurige Mädchen Lene war und nicht irgendjemand, eine Fremde.

    In einer Pension, die zur Gaststätte gehörte, mieteten wir uns ein Doppelzimmer mit Frühstück für eine Nacht. Auf den beiden Nachttischchen im Zimmer lagen Streichholzbriefchen mit einer Zeichnung der Pension vor vielen Jahren. Ich zündete ein Streichholz an und pustete es sofort wieder aus. Für einen Moment roch es nach Weihnachten. Und nach dem Schuppen meiner Großeltern hinter ihrem Haus. Diesem Holzkabuff ohne Fenster, in dem mein Großvater all seine Zwerge aufbewahrte. Die Figuren stellte er nicht raus in den Garten, da könnten sie ja geklaut werden, die Sonne könnte die Farben ausbleichen, Vögel könnten sich draufsetzen. Die Zwerge standen dicht an dicht, in Reihund Glied mit ihren roten Wangen, den schwarzgrünen Augen und den Kussmündern. Manchmal stellte ich mich am frühen Morgen zu ihnen hinein und sog den Geruch ein. Wenn ich die Tür schloss, fiel das Licht durch ein paar Spalten im Holz und warf Schatten auf die Porzellangesichter, Plastikhosen und Kunststoffrasenquadrate. Mein Großvater besaß Gärtner in allen Variationen, mit Schubkarren und Eimer, Unkraut zupfende, emsige Wichtel, die gebeugt oder mit gerader Haltung, liegend, sitzend, gehend, hockend und kletternd

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