Und im Zweifel fuer dich selbst
begann zu pochen, ich wurde sofort unruhig, doch dann setzte ich mich auf die Treppenstufen. Vielleicht brauchte sie nur einen Moment, und vielleicht brauchte ich ihn auch. Ich ging zurück in die Gaststätte, setzte mich an den Tresen und trank ein Glas Rotwein. Die Hoffnung, Lene eine Stütze sein zu können, wurde zur Angst, sie in einem Fehler bestärkt zu haben, und diese Angst wuchs mit jeder Stunde, die verging. Ich fummelte mein Handy aus der Hosentasche, ging vor die Tür und wählte Friedrichs Nummer. Bevor er rangehen konnte, legte ich auf und versuchte es mit einer SMS, aber mir fielen keine 120 Zeichen ein. Kurze Zeit später hörte ich meinem Vater zu, der ruhig auf mich einredete. Tränen gab es keine mehr, aber es ging mir besser, nachdem er erzählt hatte, wer seine nächsten Patienten seien, und dass die eine Schwester sich die Haare gefärbt habe. Mein Zuhause gab es noch. Ich blickte zu unserem Fenster hoch und meinte, etwas an der Gardine unseres Zimmers zu sehen.
Als ich hinaufging, war die Tür nicht mehr verschlossen.
Die Nacht war nicht gut. Lene schlief wenig und träumte viel in den kurzen Schlafphasen. Ich hielt sie fest, manchmal rutschte sie fast vom Bett, einmal fand ich sie in der Badewanne, warm duschend, aber zitternd, das andere Mal lag sie einfach weinend neben mir. Das war das erste Mal, dass ich jemand mit geschlossenen Augen weinen sah. Ich war müde und versuchte mit aller Kraft, wach zu bleiben. Zwischendurch kam eine SMS von Friedrich, in der stand, dassich mich melden solle. Am Morgen checkten wir um halb acht aus, das Frühstück war egal. Unten duftete es nach Rührei und warmer Milch. Lene wollte fahren und stieg ins Auto, schaffte es aber nicht weit, und so hielten wir ein paar Minuten später schon wieder direkt neben einer Kleingartenanlage. Nichts regte sich, die kleinen Parzellen lagen ohne jede Bewegung mit Blick auf den See, irgendwo machte ein Rasensprenger seine Arbeit. Auf dem Grundstück, das am steilen Hang zum Ufer lag, mähte ein älterer Mann in Unterhemd und Turnhose den Rasen und winkte uns zu. Ich winkte zurück, Lene wendete sich ab. Unter den Bäumen eines Waldstücks führte ein kleiner See direkt am Wasser entlang, dort war es kühl, ein paar Blätter schwammen auf der glatten Oberfläche. Das Gras war noch feucht von der letzten Nacht. Lene sprach mit brüchiger Stimme: »Ich hab von toten Schmetterlingen in meinem Mund geträumt. Und dass ich vergessen habe, wo ich bin. Alles tat weh, ich kaute die ganze Zeit auf den Motten herum, die noch lebten und zappelten, und ich wusste schon, dass Tim mich vergessen hat. Ich hatte mich verlaufen im Traum, alle Straßen sahen gleich aus, und ständig musste ich ausspucken, die Tiere, die Flügel und Beine. Nach einer Weile kamen sie auch aus einem Loch in meinem Hinterkopf gekrochen und ich steckte mir einen Zeigefinger hinein, um die Stelle zu verschließen, bis Tim kam. Und vor mir stand, und ich wusste, er weiß nicht, wer ich bin. Und mit der Hand am Hinterkopf habe ich versucht, ihm die Situation zu erklären, aber ich musste spucken, und er ekelte sich, und ich ekelte mich vor mir selbst. Er ist dann gegangen und hat michnicht mehr angeschaut, er wusste anscheinend, wohin. Aber ich hatte keine Ahnung und lief halbblind hinterher, die Motten krabbelten von innen durch meine Augen, und überall hat es gejuckt, als ich aufgewacht bin. Ich musste mich dann einfach waschen.«
Von einem Baumstamm aus hielten wir die Füße in das kühle Wasser des Sees. »Entschuldige wegen gestern«, sagte ich, und Lene legte eine Hand auf mein Bein und ließ sie dort liegen, bis die Sonne die Morgenwolken weggebrannt hatte. Wir schauten hinunter auf das Bild von unseren Köpfen und den grünen Ästen darüber, ein bisschen Himmel, ein Photo von früher. Als wir zum Auto zurückkamen, sahen wir auf dem Asphalt der Straße Menschen in Ritterrüstungen gehen, mit Pferden an der Hand und Eulen auf dem Arm. Einem lag eine Axt über der Schulter, hinten von seiner Glatze baumelte ein schmaler, geflochtener Zopf. Vor der Eisdiele im Ort kaufte sich ein Schmied mit Lederschürze gerade zwei Kugeln Schokolade.
Im Auto schlief ich ein und wachte davon auf, dass Lene anhielt. Sie öffnete die Tür, beugte den Oberkörper aus dem Auto und übergab
sich auf Steine, Erde und Gras. Mir blieb beinahe das Herz stehen, denn im ersten Moment sah es aus, als würde sie einfach vornüber nach draußen kippen,
ohne ein Geräusch
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