Und immer wieder Liebe Roman
Part zu üben. Er sieht nervös aus, als wäre das kleine Podium in unserer Buchhandlung die Bühne der Scala. Er nähert sich dem Lesepult, klopft mit dem Mittelfinger ans Mikrofon, macht »einszweieinszwei« und sieht sich ängstlich um. Dann setzt er sich, schaut auf, blickt zur Kasse, als würde er auf meinen Countdown warten. Das Buch hält er in der Hand wie ein Brevier. Manuele stellt ihn den Kunden vor, und dann räuspert sich der Mann und beginnt.
»Ich habe Das Phantom der Oper von Gaston Leroux für euch ausgesucht, die schreckliche Geschichte von Erik, der schlimmer stinkt als Dracula und hässlicher ist als Frankenstein...« Alles lacht, und der Bann ist gebrochen. »Es geht um seine Liebe zu der Opernsängerin Christine, die das Monstrum dank seiner Stimme verführen kann. Und auch dank der Tatsache, dass Frauen keine Kompromisse kennen. Für sie gibt es nur wunderschön oder potthässlich. Habt ihr das auch schon bemerkt?«
Er scheint sich an jeden einzelnen seiner Zuhörer persönlich zu wenden und zwinkert ihnen verführerisch zu. Seine Finger spielen mit den Ecken der Buchseiten, und alles hängt an den Lippen dieses Erzählers der alten Schule. Lucilla ist sichtlich zufrieden. Sie betrachtet ihn mit dem Stolz der glücklichen Ehefrau. Ernesto würdigt sie jedoch keines Blickes, sondern geht jetzt zu John Fowles über. Alice reicht ihm ein Exemplar von Die Frau des französischen Leutnants aus dem Regal »Noli me tangere«, und alle, aber wirklich alle, nippen an irgendetwas, als er vorträgt, wie
Sarah Woodruff an der sturmgepeitschten Mole aufs Meer hinausschaut, wo eben der Leutnant verschwunden ist. In diesem Fanclub des dritten Lebensalters erscheint nun auch Emily, einen ungewohnten Glanz in den Augen und auf den Wangen duftenden Puder. An ihrem Arm hängt Signora Oldrini mit ihrer durchscheinenden Gesichtshaut und der riesigen Nase. Sie sieht ein wenig aus wie eine Hexe, und ihre winzigen Trippelschrittchen wollen irgendwie so gar nicht zu ihrer imposanten, Ehrfurcht gebietenden Gestalt passen. Meine liebe Freundin schaut sich in ihrer ehemaligen Portiersloge um. Vielleicht weint sie ihr ein wenig nach...
Ernesto beendet seine Lesung und tritt zwischen die Bänke.
Es ist sechs Uhr. Nun ist Cecilia an der Reihe. Sie beginnt ihren kleinen Auftritt mit einem Spielchen: »Was ist die schönste und bewegendste Geschichte, die ihr je gelesen habt?«, fragt sie ins Publikum.
Durch den Raum geht ein Raunen. Die Zuhörer sind ganz bei der Sache. Im Publikum recken sich Hände. Die Kameliendame, sagt Signora Donati mit ihrem Engelsstimmchen. Wir hatten für sie einen bequemen Platz reserviert, und da sitzt sie nun, zusammen mit ihrer kroatischen Gesellschafterin, die wenig zu verstehen, sich aber köstlich zu amüsieren scheint. Nicht Liala? Das Spiel provoziert Auseinandersetzungen, und ich möchte das Gesicht jener Banausen sehen, die bestimmte Arten von Literatur am liebsten in die hintersten Ecken einer Buchhandlung verbannen und ihnen ein Kitschsiegel verpassen würden.
»Maurice von Forster«, schlägt ein junger Mann vor, und Gaston, der in Erwartung seines Auftritts neben Borghetti sitzt, nickt hoffnungsvoll.
»Ihr wollt doch wohl die Wahlverwandtschaften nicht unterschlagen? Das ist ein Meilenstein«, mahnt Signor Frontini, der
den kürzlich erst in einer neuen zweisprachigen Ausgabe erschienenen Goethe in den Händen hält.
»Es kann passieren, dass einem bei der Suche nach Raritäten die offensichtlichen Dinge entschlüpfen«, sagt Ernesto. Alle drehen sich zu ihm um. »Ich würde daher an Quasimodo und seine Esmeralda erinnern wollen – Esmeralda ist die Zigeunerin, nicht die Ziege. Der Glöckner von Notre Dame ist so bekannt, dass man das Buch glatt vergessen könnte«,Er schaut strahlend in die Runde. »Der Glöckner von Notre Dame ist eine der großartigsten im Mittelalter spielenden Liebesgeschichten«, doziert er und ist jetzt ganz in seinem Element. »Und die romantische Liebe ist nichts anderes als die Wiederentdeckung der ritterlichen Leidenschaft für die Herrin, das Burgfräulein, die Herzensdame. Sie beherrscht unsere Gedanken und unsere Taten; all unser Tun ist durch sie inspiriert, denn nichts im Leben ist so süß wie unsere Herzensdame und der Balsam ihrer Liebe.«
»Der Balsam?«, fragt Cecilia.
»Meine Herzensdame ist der Balsam meines Lebens. Für die anderen kann ich nicht sprechen, die muss man schon selbst fragen. Manuele, was ist Alice für dich?«
»Alice
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