Und immer wieder Liebe Roman
bemerkbar. Für einen Bären wie mich ist das ungewöhnlich. Ohne es zu wollen, verwandele ich mich in einen »normalen« Menschen.
Tschüss, mein Gegengift gegen die Gegenwart,
Federico
P.S. Ich gebe acht auf mich – und auf uns beide. Die Gefahr, die ich immer zu wittern glaube, ist, dass Du gehen könntest. Aber ich würde das merken. Pass also auf! Und hör nicht auf, mir zu schreiben.
Es ist der dritte Septembersamstag, und wir Mailänder begehen die sogenannte »Weiße Nacht«. Die Idee haben wir aus Paris übernommen. Wir haben aber kein Seineufer, und einfach so die
ganze Nacht herumzubummeln, ist für jemanden wie mich, der um Mitternacht schlappmacht und wie Aschenputtel seinen Zauber verliert, die reinste Provokation. Die Nachteulen haben einen Marathon organisiert, von fünf bis fünf, und reden von nichts anderem mehr, während sich meine Verwunderung über die neuen Trends immer noch nicht gelegt hat.
»Wer soll denn zwölf Stunden am Stück in den Laden kommen?«, frage ich in neutralem Tonfall, um keine Empfindlichkeiten zu verletzen.
»Du wirst schon sehen«, orakeln die beiden Verschwörer. »Wir kümmern uns um alles – du musst nur zuschauen oder vielmehr an der Kasse stehen, und wenn du zum Yoga gehst, werden wir einen Ersatz für dich finden. Sogar Mattia hat schon zugesagt.«
»Zugesagt wofür?«
»Uns im Lokal zu helfen, zusammen mit Carlotta und anderen Freunden. Wir zahlen ihnen eine Pauschale.«
»Aha. Aber macht lieber einen Vertrag, ich möchte hier keine Schwarzarbeiter haben.«
»Bist du einverstanden, dass wir für die Lesungen Kunden gewonnen haben?«
»Warum tut ihr so, als würdet ihr mich um Erlaubnis fragen, wo ihr doch ohnehin schon alles entschieden habt?«
»Wir haben nichts hinter deinem Rücken entschieden. Aber wir fänden es ein super Marketingkonzept, wenn unsere Kunden eine Stunde lang im Rampenlicht stehen. Und sie sind alle Feuer und Flamme. Jeder hat sich einen Titel ausgesucht, aus dem er lesen will, und hat uns eine Stelle vorgeschlagen. Das ist kostenlose PR vom Feinsten.«
Meine Laune ist mies, ich bin gereizt und weiß nicht, was ich darum geben würde, neben meinem Liebsten bei Barnes&Noble in Oklahoma oder Pennsylvania oder Ohio zu sitzen und irgendeine
beliebige Person irgendeinen beliebigen Roman lesen zu hören. Alice läuft in Strumpfhose (wie ich das nenne), beziehungsweise Leggings (wie sie das nennt), schwarzer Baumwolljacke und pinkfarbenen Ballerinas im Geschäft auf und ab und glaubt an den triumphalen Erfolg ihres Marathons. Mein Beitrag zu diesem Quatsch für Schlaflose ist das Schaufenster »Liebe in der Tasche«: Ich habe Broschüren, Klebstoff und viel gutes Papier in meine sämtlichen Jacken- und Manteltaschen gestopft und sie im Schaufenster verteilt. Auf dem Boden liegen Schuhe wie Bonbons herum. Ich werde jetzt einfach nach Hause flüchten und mich meiner Depression hingeben. Der Sinn steht mir nach Salat vor dem Fernseher.
Niemand lässt sich dazu herab, mich zum Bleiben überreden zu wollen. Sie sind viel zu beschäftigt, um Rücksicht zu nehmen, und jetzt kommt auch noch ihr Freund, der Konditor, mit seinen Imitationen der muschelartigen Schokoladen-Madeleines, die Marcel bei Tante Léonie gegessen hat. Nachmittags um vier allerdings, als ich nach einem Kaffee, der Lektüre der Tageszeitungen und einem Nickerchen aufs Fahrrad steige, besinne ich mich eines Besseren und stelle mein Fahrrad im Hof ab. Ich bin doch neugierig auf heute Nacht.
Im Lokal sitzt eine Gruppe Frauen. Sie unterhalten sich und wirken zufrieden, zumal es überall nach Haselnussnougat und Rosenwasser duftet, nach Lucillas Spezialitäten: Mandel-Schoko-Gebäck und Blätterteighörnchen mit Himbeermarmelade. Die sind für das Debüt des pensionierten Ernesto, den wir nie kennengelernt haben und nun gespannt erwarten. Sein Beitrag zum Marathon steht um fünf auf dem Programm. »Er hat eine schöne Stimme, müssen Sie wissen«, hatte die ängstliche Ehefrau erklärt, und Alice war sofort darauf angesprungen: »Warum bringen Sie ihn nicht mit, dann kann er für die Kunden lesen?«
Und da ist er nun. Nach den Gesprächen mit seiner Frau hatte ich ihn mir alt und traurig vorgestellt, aber was für eine Überraschung! Signor Ernesto ist so schön wie Clint Eastwood, mit tiefblauen Augen. Er geht nur ein klein wenig gebeugt, dieser lesende Gentleman mit dem angenehmen Rasierwasser. Jetzt läuft er im Geschäft auf und ab und scheint im Geiste seinen
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