Und immer wieder Liebe Roman
kann es kaum glauben, dass die beiden ihn überredet haben, doch da sitzt er bereits auf dem Podium, räuspert sich, lässt die Brustmuskeln unter dem weinroten Poloshirt spielen und beginnt mit Stark wie der Tod von Guy de Maupassant.
»Seine Freundin hat ihn verlassen. Den Text habe ich für ihn ausgesucht. Er ist nicht der Typ, der viel liest«, verrät mir Alice flüsternd, als sie mir ein Exemplar von No Fond Return of Love von Barbara Pym in die Hand drückt, damit ich es für eine rundliche Kundin in Bonbonrosa, die eigentlich gar nicht nach gebrochenem Herz aussieht, einpacke. »Mir schien das eine gute Idee zu sein. Seine Freundin ist weg, er ist wieder frei und hat einen unbefristeten Job. Jetzt kennt er auch noch Maupassant. Wäre er nicht perfekt für Cecilia?«
»Wenn ein paar Buchseiten reichen würden, um die Liebe zu finden, würden die Leute hier Schlange stehen. Aber er scheint sich trotz des Buchs ganz wohlzufühlen, der Schnösel. Ich gehe einmal davon aus, dass er keine Ahnung hat, was er da vorliest. Was soll er schon von Maupassant wissen?«
Und doch liest Fabrizio zügig und zugegebenermaßen nicht schlecht. In der Buchhandlung wimmelt es heute Abend von Narzisten: Gib einem Mann ein Mikro in die Hand, und schon verwandelt es sich in ein Phallussymbol. An etwas anderes denken sie nicht, das hat selbst Michele zugegeben, als ich zu verstehen versucht habe, warum er mich mit faden Blondinen betrügt.
Borghetti ist einer der wenigen, der seinen Laden heute Abend geschlossen hat. Ihm scheint es zu gefallen, dass er nun aufs Podium
darf, mit orangefarbener Fliege und karierter Weste. Borghetti ist ein feiner Mann. Er hat Amore ausgewählt. Bevor er zu lesen beginnt, fühlt er sich genötigt, das Publikum zu belehren.
»Dino Buzzati beschreibt einen überaus anständigen Bürger, einen Architekten namens Antonio Dorigo«, teilt er uns mit wichtiger Miene mit. »Er ist neunundvierzig Jahre alt und lernt im Winter 1960 eine sechzehnjährige Prostituierte kennen, die sich als Tänzerin an der Scala ausgibt und Laime heißt. Der Architekt verliebt sich in sie – aber Laime nimmt ihn nur aus, betrügt und verrät ihn schließlich. Ich rede hier von Buzzati, meine Damen und Herren, nicht von irgendeinem Schreiberling«, beschließt er seine Rede und beginnt mit der Litanei des Architekten. Sei’s drum. Der arme Buzzati war früh Waise geworden, und mit knapp über zwanzig ist ganz plötzlich seine Freundin gestorben. Eine Frau zu bezahlen, ist vielleicht eine Möglichkeit, Gefühle außen vor zu lassen. So entstand dieser überwältigende Roman, den heute kaum noch jemand liest. Ich habe keine Lust zuzuhören, für mich gibt es nur einen Architekten, und ich verschwinde, bis der Cavaliere den Stab an Frontini weitergibt, den Anwalt. Der betritt das Podium so selbstbewusst, als hätte er einen Schauspielkurs besucht.
»Ich werde euch von der Liebe zwischen Josef und Irena vorlesen, zwei exilierten Tschechen«, sagt er mit seiner wohlklingenden Stimme. »Sie begegnen sich am Flughafen von Paris, wo er durch einen Zufall, den sie für Schicksal hält, an ihr vorbeiläuft. Sie kennen sich bereits aus ihrer Jugend, als er ihr den Hof gemacht hatte. In diesem Alter der Unwissenheit haben sie beide Entscheidungen getroffen, die für ihre Zukunft bestimmend waren. Josef ist nach Dänemark gezogen und hat geheiratet; jetzt ist er Witwer und lebt nur noch in der Erinnerung an seine Ehefrau. Auch Irena hat ihren Mann verloren, Martin, und dann Gustav
getroffen. Und nun hört zu: ›Diese Frau hat sich nie für einen Mann entschieden. Immer waren es die Männer, die sich für sie entschieden haben. In der Affäre mit Gustav hatte sie geglaubt, die Freiheit gefunden zu haben.‹ Milan Kundera, Die Unwissenheit. Die große Rückkehr ist allerdings eine Enttäuschung: In Prag suchen und finden sich Josef und Irena kurz vor dem endgültigen Aufbruch aus diesem Land, mit dem sie nichts mehr verbindet. Irena kann endlich die Vorfreude auf den Ehebruch auskosten. Im Hotel benutzt sie obszöne Worte, die sämtliche Sinne anfachen. Im Originaltext klingt das so: ›Absolute Übereinstimmung in einer Explosion von Obszönität! Wie elend war ihr Leben bisher gewesen! All die nie ausgelebten Laster, all die nie begangenen Treuebrüche, alles, alles möchte sie jetzt erleben. Gierig.‹«
Meine muschelartige Madeleine bleibt mir im Halse stecken. Wer hat dieses Zeug bloß ausgewählt? Was ist denn das für ein
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