Und immer wieder Liebe Roman
letzter Woche. Wenn ich Deine Antworten lese, wird mir klar, dass ich Dich manchmal mit traurigen, sinnlosen Überlegungen langweile und dass ich es bin, der Probleme schafft. Dabei will es der Gemeinplatz doch eigentlich, dass Frauen kompliziert und Männer einfach sind. Ich mache keine Fortschritte auf dem Weg der Emanzipation und merke, dass ich anderen gegenüber immer barscher, ja fast feindselig werde. Sarah rettet mich vor dem Zustand der Lebensuntauglichkeit, indem sie mich ständig dazu zwingt, umzudenken und zu reflektieren. Vielleicht »dienen« Kinder uns Eltern ja auch dazu, wach zu bleiben. Unter dem Vorwand, dass wir ihre Entwicklung kontrollieren müssen, sind wir gezwungen, auch uns selbst zu kontrollieren.
Nach einem äußerst mittelmäßigen Cappuccino muss ich leider los. Aber vorher gehe ich noch schnell den Brief einwerfen, mein Schatz.
Ein Kuss, Du weißt, wohin,
Federico
»Alice, die Buchhandlung riecht nach Mandarinen. Ich sehe keine Kerzen.«
Mein Flamingo schaut mich zufrieden an.
»Ich habe Mandarinenschalen auf die Heizung gelegt, damit sich der Geruch in der gesamten Buchhandlung ausbreitet. Ein bisschen Weihnachsstimmung sollten wir unseren Kunden ja schon bieten, nicht wahr? Falls ich daran erinnern darf, wir sind furchtbar im Verzug mit dem Dezemberfenster. Aber du hast ja alle meine Vorschläge abgelehnt: Scherenschnitte von Engeln, Schneemänner, goldene Schleifen, silberne Kugeln, Holzbäume, Dudelsäcke, Spieluhren, Schokolade, Bonbons,Torrone, Krippenfiguren, Kometen mit Schweif, Sterne ohne Schweif. Mir gehen langsam wirklich die Ideen aus.«
»Das ist doch alles der übliche fantasielose Kitsch. Ich hatte eher an so etwas wie Apfelsinen gedacht. Apfelsinen, gespickt mit Gewürznelken. Und an Familienromane. Weihnachten ist das Fest der Familie, und es gibt doch so großartige Familienromane, findest du nicht?«
Ich habe meine rhetorische Hymne noch nicht beendet, als ich auch schon merke, dass es sich bei den Romanen, die mir in den Sinn kommen, samt und sonders um Verfallsgeschichten handelt, mögen sie auch noch so sublim sein.
»Also, Buddenbrooks, Die Malavoglia .... Ach ja, Maisie von Henry James. Das ist die Geschichte eines Abstiegs, unter dem vor allem die kleine Protagonistin zu leiden hat. O Gott, Alice, gibt es eigentlich keine glücklichen Familiengeschichten? Wir könnten sie mit geeigneteren Titeln wie den Weihnachtsgeschichten von Dickens kombinieren.«
Ich verrenne mich.
»Dickens spricht nicht über die Liebe, Emma, da sollten wir besser Muriel Spark nehmen. Wir haben drei Exemplare von
Memento Mori. All diese griesgrämigen Alten werden den Leuten die Lust auf Kinder gründlich austreiben. Mir allerdings nicht. Oh, Emma, wie ich es liebe, das Schaufenster zu gestalten!«
Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und schält mir eine Mandarine.
»Komm, Alice, lass uns ein Schaufenster gegen die Familie machen. Und mitten rein stellen wir einen schönen Weihnachtsbaum mit Taschenbüchern statt bunten Kugeln. Du bist doch nicht schwanger, oder?«
Alice lacht. »Nein, natürlich nicht. Erst wird geheiratet. Da sind wir beide spießig.«
»Es wird ein modernes Schaufenster. Jedem die Familie und der Roman, die er verdient. Gut, meine liebe Assistentin. Lass uns weitermachen.«
Mailand, den 4. Dezember 2004
Lust&Liebe
Lieber Federico,
wir sind in der Buchhandlung, und er ist oben im Zwischengeschoss. Es ist ein Kunde, auch wenn es nicht ganz richtig ist, ihn einen Kunden zu nennen. Tatsächlich kauft er nichts. Er liest immer nur. Er kommt regelmäßig mittwochs und samstags nachmittags, für gewöhnlich gegen drei. Als Erstes dreht er immer eine schnelle Runde um die Tische, dann nimmt er zwei, drei Romane, blättert manchmal etwas ausgiebiger darin herum, überfliegt die Klappentexte und geht schließlich mit dem auserwählten Exemplar nach oben, setzt sich in den einzigen Sessel, der von der Kaffee-Ecke übrig geblieben ist, und liest. Gegen sechs, halb sieben bringt er das Buch genau dorthin wieder zurück, wo er es gefunden hat, und geht. Ich traue mich nicht, ihn daran zu hindern
oder ihn etwas zu fragen. Seinem bescheidenen, wohlerzogenen Auftreten kann man entnehmen, dass er die Buchhandlung schätzt, aber da er nie einen Ton sagt, wissen wir nicht, wer er ist und warum er hier wie in einer Bibliothek Bücher liest. Mir tut er irgendwie leid. Ich glaube, dass er einsam ist, und mir gefällt der Gedanke, dass die Bücher
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