Und immer wieder Liebe Roman

für ihn eine Art Entschädigung darstellen. Ich weiß nicht, wofür, aber ich kann mir sein Verhalten nicht anders erklären. Wenn er den Laden verlässt, frage ich mich immer, ob er am nächsten Mittwoch oder Samstag wiederkommen wird. Ich mag den Mann, der liest, aber da bin ich die Einzige. Manuele und Alice nennen ihn sogar einen Parasiten. Schwer zu sagen, wie alt er ist. Sechzig? Siebzig? Ein Penner ist er jedenfalls nicht. Seine Kleidung ist unauffällig, aber ordentlich, und man kann sich kaum vorstellen, was für einer Arbeit er nachgeht, falls er eine hat. Ich habe nicht den Mut, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Instabilen Menschen gegenüber bin ich immer etwas gehemmt, aber mir gefällt der Gedanke, dass Lust&Liebe ein besserer Rückzugsort ist als eine anonyme Stadtbibliothek. Ich mag ihn auch nicht ansprechen, weil ich denke, dass er sich wohler fühlt, wenn ihn niemand in seinen Vorhaben stört. Der durchgesessene Sessel steht nur für ihn hier. Auf die Idee hast Du mich mit Deinem Brief über die Buchhandlung gebracht, und ich hof fe sehr, dass sie die Filiale nicht schließen. Ich musste an all die Leute denken, die durch unsere Städte laufen: Wie wenig Beachtung schenken wir doch den Unsichtbaren, obwohl sie sicher eine Menge zu erzählen hätten.
    Heute war unser Schaufenster übrigens im »Corriere della sera«, in der Beilage, die der Saisoneröffnung der Scala gewidmet ist. Diese Geschmacklosigkeit wird jedes Jahr wie ein hochbedeutsames kulturelles Ereignis zelebriert, und ich beteilige mich daran, indem ich für das Schaufenster alte Scala-Plakate ausgegraben
habe, Diebesgut des Pressechefs Carlo Mezzadri, der sie mir vor etwa zwanzig Jahren geschenkt hat: einzigartige Aufführungen wie Verdis Requiem unter Victor de Sabata, was nicht viel mit Liebe zu tun hat, sich aber gut neben Viscontis Traviata mit Maria Callas macht. Auf einem bordeauxroten Samttuch präsentiere ich Worte, die gesungen und gespielt werden: Lieben Sie Brahms? von Francoise Sagan, Die Erziehung des Herzens von Flaubert, in dem Manuele zufolge Harfentöne erklingen, während Alice aus dem Repertoire der karrierebewussten Buchhandelsassistentin das Spinett der Leiden des jungen Wertber und Herrn Brühls Bach aus den Buddenbrooks hervorgekramt hat. Mir war der Pianist des Monsieur Verdurin in den Sinn gekommen, dann die verschollene Partitur von Roberto Cotroneo und die Kreutzersonate, die Signor Frontini so gefällt. Keine Rockmusik, verehrter Architekt, die bleibt Dir vorbehalten, und Du hast keine Ahnung, wie sehr ich Dich jetzt, da mir der Mann, der liest, durch den Kopf geht, gerne bei mir hätte. Du würdest auf der Gitarre herumklimpern und mich ganz sanft auf die linke Schläfe küssen.
    Emma
     
    P.S. Kann man beim Gitarrespielen küssen?
     
     
    Eine Frau um die vierzig oder eher fünfunddreißig (es wird immer schwieriger, das Alter der Leute zu schätzen), die ein schmächtiges Kind an der Hand hält, als sie Lust&Liebe betritt, lenkt mich ab von meinen vier Sehnsüchten (Flucht in die Karibik mit Federico, eine Woche in den Thermen mit Gabriella, ein Zaubertrank, der mir dazu verhilft, eine geduldige Person zu werden. Heute bin ich zu allen meinen Mitmenschen grässlich und befürchte kurzzeitig, dass die Verrohung meines Charakters irreversibel ist. Ich
ertrage nichts und niemanden mehr – was nicht gerade die idealen Eigenschaften einer Verkäuferin sind.)
    »Ich hätte gern ein Buch aus dem Schaufenster, Geschichte meines Lebens von Casanova«, bittet die Dame.
    Gaston grinst. »Volltreffer, Emma!«, flüstert er. »Siehst du, dass ich dir einen guten Tipp gegeben habe? Man darf nie nach dem Äußeren gehen. Sie scheint direkt aus Peyton Place entsprungen, stattdessen mag sie die ganz Großen, und ich kann dir versichern, dass es sich um eines der interessantesten Bücher handelt, die man lesen kann!«
    »Na ja, ›ein ganz Großer‹ halte ich für übertrieben«, antworte ich Gaston, für den ich das Schaufenster gemacht habe. Auch als Abschiedsgruß, denn er zieht mit Borghetti an die Côte d’Azur. Als sie ihr Geschäft für immer schlossen, verkündeten sie: »In unserem Alter hält kein Ozean mit dem Mittelmeer mit.« Dem Ozean gilt meine vierte Sehnsucht.
    Durch Gaston erhalten Tod und Leid, Trennungen und Wunden die Schönheit des Pathos zurück. Er und Filippo werden mir fehlen.
    »Ach, Gaston«, seufze ich, während ich den Roman für meine Kundin in Geschenkpapier einwickele. »Wer weiß, was jetzt