Und immer wieder Liebe Roman
Vater die Bibliothek überlassen hatte mit dem Auftrag, dass sie »immer der Wissensmehrung und der Freude des amerikanischen Volkes dienen solle«. Der Sohn musste einen Teil verkaufen, um Steuern bezahlen zu können, und im nächsten Jahr stellte er sie im Metropolitan Museum aus. Das war das einzige Mal, dass die gesamten Bestände auf einmal gezeigt wurden. Belle blieb weitere dreißig Jahre Bibliothekarin. Jetzt sind schon neunzig Jahre vergangen, und wir arbeiten an der unschuldigen Obsession eines Mannes, dem heute sämtliche amerikanischen Zeitschriften lange Artikel widmen und dabei auch Renzo und unser Projekt erwähnen. Das schien mir ein schönes Thema zu sein, um Dir neun Tage vor unserem Treffen davon zu erzählen.
Ein aufgewühlter Federico
P.S. Heute bin ich wirklich glücklich.
10. April 2003
Als ich gestern nach der endlosen Tortur beim Friseur auf die Straße trat, dämmerte es bereits. Irgendetwas lag in der Luft.
Und dann kam er, der nicht mehr erwartete Schnee. Es begann alles mit einem harmlosen Wirbeln; er trudelte auf den Mantel, sammelte sich auf den Autoscheiben und setzte sich als silberner Bart an den Bordsteinkanten ab. Dann löste er sich in Regen auf.
Jetzt, am Morgen danach, koche mir einen Kaffee und verteile eine doppelte Schicht Aloe-Vera-Feuchtigkeitsmaske auf meinem Gesicht. Erst dann öffne ich die Vorhänge. Der Bildausschnitt ist eindrucksvoll, meine Augen hinter dem Fensterglas wandern von oben nach unten, von unten nach oben. Die Hausdächer in der Via Londonio sind vom Weiß umschmeichelte Kuppeln. Meine Ungeduld und diese Flocken sind nicht miteinander vereinbar. Aus dem Radio dringen Nachrichten wie: »Die heftigen Wintereinbrüche stellen eine Herausforderung für die Verkehrswacht dar. Seit dem Morgengrauen sind pausenlos Pannen- und Räumfahrzeuge im Einsatz. Weitere dreihundert Räumfahrzeuge streuen Salz und leisten im Bedarfsfall Hilfe.«
Das Taxi hatte ich gestern für neun bestellt. Ich habe nur noch einhundertachtundsiebzig Minuten bis dahin. Mein Taxifahrer schläft oder hat soeben erst mit seiner Schicht angefangen. Wird er kommen? Die Stimme des Nachrichtensprechers macht meine Hoffnungen zunichte: »Mailand wird vom schlimmsten Schneesturm seit zwanzig Jahre heimgesucht. Das bedeutet Alarmstufe
rot für den Straßenverkehr, der nahezu komplett zum Erliegen gekommen ist. Außer in dringlichen Fällen wird davon abgeraten, sich auf die Straße zu begeben.« Nach Belle-Île zu reisen ist ein dringlicher Fall, entscheide ich, und außerdem fahre ich ja nicht selbst.
»Die Stadt versinkt im Chaos«, fährt der Radiosprecher fort. »Die Telefonzentralen der verschiedenen Taxizentralen sind alle außer Betrieb.«
Niemand sagt etwas über den Flugverkehr.
»Ganz Europa wird von der Kältewelle heimgesucht. Die Schneefälle dieses 10. April 2003 nehmen ein landesweit denkwürdiges Ausmaß an.«
Und ein denkwürdiges Ausmaß im Leben einer Buchhändlerin, fährt es mir durch den Kopf. Ich schaue auf den Koffer, oder vielmehr ist er es, der mich anschaut. Ruhig wartet er in der Ecke neben der Eingangstür. Ich frage mich, was wir nun tun sollen, und schalte den Fernseher ein. Dort redet eine Moderatorin aufgeregt in die Kamera.
Das Telefon klingelt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung lässt auf eine optimistische und warmherzige Person schließen: »Mailand ist dicht, Signora. Möchten Sie abbestellen?«
»Nein, nein, ich werde einen Teufel tun und abbestellen. Ich muss nur zum Flughafen. Würden Sie so freundlich sein, mich dorthin zu bringen?« Ich habe keine andere Waffe als eine honigsüße Stimme.
»Linate oder Malpensa?«
»Linate, Linate. Das ist ganz in der Nähe.«
»Der Luftraum ist dicht. Vergessen Sie es, glauben Sie mir.«
Ich erkläre der Stimme, dass ich fahren muss . Zu einem außergewöhnlichen Treffen. Ganz und gar unumgänglich.
»Wie Sie wollen, Signora. Ich mag Schnee.«
Auf dem Rücksitz des Audi eines optimistischen und warmherzigen Taxifahrers durchquere ich das verschneite Mailand. Ich versuche es mit Büchern, aber keine Chance: Er redet lieber vom Wetter.
Da ist schon Linate. Es ist gar nicht mal so kalt. Die gamsledernen Schnürstiefel sind durchgeweicht, aber das ist eher ein gutes Zeichen. Dutzende, Hunderte, Tausende von Flocken landen erschöpft von ihrem Flug auf dem Asphalt. Im Bereich für internationale Flüge sitzen ein paar Leute und warten in aller Gemütsruhe. Alle anderen, dieses Sammelsurium an
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