Und immer wieder Liebe Roman
ist eine besonnene Reformatorin, keine Revolutionärin; das ist sie nie gewesen. Was bedeutet also diese kurze Ponyfrisur, die sie sich zugelegt hat?
Ich wappne mich.
Jetzt nähert sie sich mit einer Tasse grünem Apfeltee und verkündet in kokettem Tonfall: »Ich habe eine Idee.«
»Danke für den Tee. Die Idee darf aber nicht viel kosten, du kennst ja Alberto. Was hast du übrigens mit deinen Haaren gemacht?«
»Ich habe einen Eid geschworen.«
»Das macht man doch nur in der Kirche oder an den übergeordneten Wallfahrtsorten.«
»Du weißt doch, wie das ist: Man sagt sich, wenn das und das
passiert, dann mache ich das und das, ich schwöre. Na ja, es ist tatsächlich passiert, und so mussten meine Haare dran glauben. Ich habe sie gestern abschneiden lassen, zack, und schon fühle ich mich wie ein anderer Mensch. Aber sie wachsen ja wieder.«
»Steht dir ausgezeichnet, Süße. So, und welche Idee hattest du jetzt genau?«
»Wir brauchen eine Aushilfe, wenigstens für den Nachmittag. Jetzt, wo wir auch noch das Gasthaus haben, schaffe ich das nicht mehr alles allein. Ich dachte, dass wir vielleicht einen Mitarbeiter brauchten.«
Einen Mitarbeiter, sagt sie, in der männlichen Form. Ich muss lächeln. Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um den 52-Euro-Haarschnitt mit ihrem Ideal von einem Mitarbeiter in Verbindung zu bringen.
»Er sollte jung und aufgeweckt sein, müsste Stil haben, dürfte aber nicht affektiert wirken. Ein Intellektueller mit Sinn fürs Geschäft wäre gut, habe ich überlegt.«
»Tolle Idee, Alice, hier fehlt tatsächlich ein Mann«, erwidere ich lächelnd. »Ich fürchte aber trotzdem, dass wir es mit Alberto zu tun bekommen.«
Heute gönne ich mir einen halben freien Tag als Vorgeschmack auf den Kurzurlaub, der vor mir liegt: Friseur, Beine enthaaren, Gesichtsreinigung, neues Kleid. Und ein Paar neue Schuhe. Ich verabschiede mich von Alice, ohne ihr weitere Ratschläge für den Neuen zu geben. Sie scheint noch zufriedener zu sein als ich, dass sie für ein paar Tage freie Bahn hat.
»Ein paar wohlorganisierte Streicheleinheiten hast du dir wirklich verdient. In Anbetracht der vielen Thermalbäder hier in Italien scheint es mir zwar ein bisschen übertrieben, für eine Thalassotherapie in die Normandie zu fahren, aber du kannst immerhin
auf den Spuren Prousts wandeln. Amüsier dich gut, erhol dich und bring mir eine Madeleine mit.«
Proust ist das Letzte, woran ich jetzt denke, aber das Ziel rechtfertigt die Lüge. Ich kann schließlich nicht jedes Jahr behaupten, dass ich nach Paris fahre und neue Buchhandlungen besichtige. Die Gesundheit ist ein unangreifbarer Grund.
New York, den 31. März 2003
42 W 10 th St
Liebe Emma,
im Jahre 1913 fuhr J. P. M. mit einer Expedition des Metropolitan Museum of Art, das er mit Millionen von Dollar unterstützte, nach Ägypten. Und dann geschah das Schreckliche: Im Land der Ruinen und Pharaonen wurde er krank. Er kehrte umgehend ins Grand Hotel nach Rom zurück. Sein Arzt reiste zu ihm und riet der Familie, von einer Verlegung nach New York abzusehen. Es bestand keine Hoffnung mehr. J. P. M. lag im Delirium, und das Fieber erlaubte sich üble Scherze mit seinem Verstand. »Ich muss den Hügel noch einmal besteigen«, wiederholte er ständig und zeigte mit dem Finger an die Zimmerdecke. Am 31. März um 12 Uhr 30 verlor er das Bewusstsein und starb. Sein Tod wurde erst verkündet, als die amerikanische Börse geschlossen hatte __ an der Wall Street wurde die Flagge auf Halbmast gesetzt. Die Familie bekam Telegramme von Papst Pius X., von Kaisern, Königen, Bankiers, Industriellen, Kaufleuten und Kunstbeflissenen, die alle gerührt waren und sich vor »diesem großen und guten Mann« verneigten. Belle da Costa schickte ein verzweifeltes Telegramm an Berenson: »Mein Herz und mein Leben liegen in Trümmern.« Als seine Leiche mit dem Schiff nach New York kommen sollte, ließ sie die Morgan Library in einem Meer von roten und weißen
Rosen und Gerbera versinken. Er wurde im West Room aufgebahrt, wo Bella da Costa wie ein Familienmitglied um ihn trauerte. Morgan hatte sie in seinem Testament mit 50 000 Dollar bedacht, so dass sie von den Zinsen leben konnte – ihr einziges Interesse galt jedoch der Zukunft der Bibliothek. Diese umfasste mittlerweile mehr als sechshundert Bände, darunter die weltweit wertvollste Sammlung von Manuskripten aus dem Mittelalter und der Renaissance. Ihre Zukunft hing von Jack ab, dem sein
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