Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
er und musterte meine verdreckte Gestalt. »Ihr könnt ein schönes Bad nehmen.«
Wir tranken aus dem großen Topf, dann wuschen wir unsere Beine. Mutter bestand darauf, dass ich noch mehr trank, obwohl ich längst nicht mehr konnte.
Jonas saß im Schneidersitz auf den Dielen. Vor ihm lag einer von Mutters Schals, darauf ein einsames Stück Brot mit einer kleinen Blume daneben.
Mutter betrachtete das Brot und die welke Blume. »Und was ist das hier für ein Bankett?«, fragte sie.
»Ich habe für meine Arbeit eine Essensmarke bekommen. Ich habe mit den zwei Frauen Schuhe genäht«, antwortete Jonas. »Seid ihr hungrig? Ihr seht müde aus.«
»Ich bin fast verhungert«, sagte ich und starrte das Brot an. Wenn Jonas für die Schusterarbeit, die er gemütlich drinnen verrichtet hatte, ein Stück Brot bekommen hatte, würde uns ein ganzer Truthahn zustehen, dachte ich.
»Jeder bekommt dreihundert Gramm Brot«, erläuterte Jonas. »Ihr müsst eure Ration im Büro der Kolchose abholen.«
»Mehr … mehr nicht?«, fragte Mutter.
Jonas schüttelte den Kopf.
Dreihundert Gramm trockenes Brot. Unfassbar. Mehr gab es nicht für das stundenlange Buddeln. Man ließ uns verhungern und würde uns wahrscheinlich in die Löcher werfen, die wir gegraben hatten. »Das ist zu wenig«, sagte ich.
»Wir werden mehr auftreiben«, sagte Mutter.
Zum Glück war der Kommandant nicht in der Blockhütte, als wir dort ankamen. Wir bekamen die Essensmarken, ohne betteln oder einen sonstigen Tanz aufführen zu müssen. Dann folgten wir den anderen Arbeitern in ein nahes Gebäude, wo man das Brot abwog und an uns ausgab. Meine Ration passte in meine Faust. Auf dem Rückweg sahen wir Fräulein Grybas hinter ihrer Hütte. Sie winkte uns zu sich. Ihre Arme und ihr Kleid waren dreckig, denn sie hatte den ganzen Tag auf den Rübenäckern gearbeitet. Bei unserem Anblick verzog sie das Gesicht. »Was haben sie denn mit euch angestellt?«
»Wir mussten graben«, erwiderte Mutter und strich sich das dreckverkrustete Haar aus dem Gesicht. »Im Regen.«
»Rasch!«, sagte Fräulein Grybas und zog uns zu sich heran. Ihre Hände zitterten. »Was ich für euch getan habe, ist sehr riskant. Ich hoffe, das ist euch klar.« Sie griff in ihren BH, holte einige kleine Rüben heraus und steckte sie Mutter zu. Dann raffte sie ihr Kleid und holte noch zwei Rüben aus ihrer Unterwäsche. »Geht schnell weiter!«, sagte sie. Ich konnte hören, wie der Glatzkopf in der Nachbarhütte rief.
Wir eilten zu unserer Hütte, um endlich etwas zu essen. Ich war so hungrig, dass ich meinen Widerwillen gegen Rüben vergaß. Und dass sie in verschwitzter Unterwäsche gesteckt hatten, war mir auch egal.
35
Steck das ein und bring es Herrn Stalas«, sagte Mutter und gab mir eine Rübe.
Ich wollte nicht zum Glatzkopf. »Ich bin zu müde, Mutter«, erwiderte ich, legte mich auf die Dielen und bettete meine Wange auf das Holz.
»Ich habe Stroh zum Schlafen besorgt«, verkündete Jonas. »Die Frauen haben mir gesagt, wo es zu finden ist. Morgen bringe ich noch mehr mit.«
»Beeil dich, Lina, sonst wird es dunkel. Bring Herrn Stalas die Rübe«, wiederholte Mutter, die gemeinsam mit Jonas das Strohlager herrichtete.
Ich ging zur Hütte des Glatzkopfs. Den meisten Platz im Halbdunkel des Wohnraums nahmen eine Frau und zwei schreiende Säuglinge ein. Herr Stalas saß in einer Ecke. Sein gebrochenes Bein war mit einem Brett geschient worden.
»Warum hat es so lange gedauert?«, fuhr er mich an. »Soll ich verhungern? Steckt ihr mit ihnen unter einer Decke? Was für eine Qual. Die Gören heulen Tag und Nacht. Ich würde Onas totes Kind sofort gegen dieses Chaos eintauschen.«
Ich ließ die Rübe in seinen Schoß fallen und wollte gehen.
»Was ist mit deinen Händen?«, fragte er. »Die sehen ja furchtbar aus.«
»Ich habe den ganzen Tag geschuftet«, fauchte ich. »Im Gegensatz zu Ihnen.«
»Und was hast du gemacht?«
»Löcher gegraben«, antwortete ich.
»Löcher, wie?«, murmelte er. »Interessant. Ich hatte damit gerechnet, dass sie deine Mutter herauspicken.«
»Wie meinen Sie das?«
»Deine Mutter ist klug. Sie hat in Moskau studiert. Diese verfluchten Sowjets wissen alles über uns und unsere Familien. Glaub ja nicht, dass sie keinen Nutzen daraus ziehen.«
Ich dachte an Papa. »Ich muss meinen Vater benachrichtigen, damit er uns hier findet.«
»Euch findet? Sei nicht dumm«, blaffte er.
»Er wird uns finden. Sie kennen meinen Vater nicht.«
Der Glatzkopf
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