Und jeder tötet, was er liebt
gefühlt.“
„Kein Problem, nun sind Sie ja da. Ich möchte Ihnen meine beiden Kollegen Herrn Sibelius und Herrn Weber vorstellen. Herr Sibelius ist Hauptkommissar in unserer Dienststelle, ich wollte ihn gern bei der Befragung dabei haben.“
Ulrike Homberg war noch blasser geworden.
„Können wir anfangen?“
Ulrike Homberg nickte.
„Wir haben Ihre Aussage bereits schriftlich vorliegen. Ich möchte Sie bitten, sich diese nun durchzulesen und, wenn alles richtig ist, hier rechts unten zu unterzeichnen.“
Anna wies mit der Hand auf das Ende der letzten DIN-A4-Seite. Dabei beobachtete sie jede Regung der Zeugin. Ulrike Homberg starrte auf das Blatt Papier, machte aber keine Anstalten, ihre Unterschrift darunterzusetzen.
„Stimmt irgendetwas nicht?“
„Ich habe so etwas noch nie getan.“
„Was meinen Sie?“
„Na ja, ich möchte keinen Fehler machen.“
„Wenn Ihre Aussage der Wahrheit entspricht, können Sie mit Ihrer Unterschrift nichts falsch machen.“
„Es ist einfach merkwürdig, die eigenen Worte schwarz auf weiß vor sich zu sehen.“
„Inhaltlich gibt es keine Zweifel?“
„Es ist schon eine Weile her, und Alfons hat seit dem Tod seiner Frau viel häufiger bei mir übernachtet als sonst.“
„Das heißt, dass Sie also nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit sagen können, was an diesem Abend und in der darauf folgenden Nacht wirklich geschehen ist?“
Ulrike Homberg schwieg.
„Sollten Sie auch nur den geringsten Zweifel haben, machen Sie sich strafbar, wenn Sie diese Aussage trotzdem unterschreiben.“
Ulrike Homberg sah in ihre Handtasche. Dann zog sie ihren Autoschlüssel heraus, nahm ihre Strickjacke von der Stuhllehne und stand auf.
„Ich würde Alfons gern behilflich sein, aber ich bin mir nicht mehr sicher genug, um das Protokoll zu unterschreiben. Kann ich jetzt gehen?“
Anna war gespannt, wie Alfons Lüdersen sich nun aus der Affäre ziehen wollte. Der Rückzug von Ulrike Homberg gab ihnen in jedem Fall die Möglichkeit, Lüdersen weiter zu verhören. Er würde wohl doch nicht zum letzten Mal in einer Gefängniszelle übernachtet haben.
„Wir werden Herrn Lüdersen noch einmal herbringen lassen, die Kollegen machen sich gleich auf den Weg.“ Günther Sibelius überlegte. „Aber zuerst möchte ich mich mit Wilfried Hinrichs unterhalten. Er ist der Einzige, der uns über die Beziehung seiner Tochter zu ihrem Mann Auskunft geben kann.“
„Herr Hinrichs lebt ziemlich weit draußen vor der Stadt, es wird also dauern, bis wir wieder im Präsidium zurück sind.“
Günther Sibelius grinste Weber an. „Es schadet nicht, wenn der Lüdersen vor dem Verhör noch eine Weile schmoren muss.“
Anna überlegte, ob es tatsächlich sinnvoll war, Wilfried Hinrichs zu dritt noch einmal die gleichen Fragen zu stellen, denen er bislang schon jedes Mal gezielt ausgewichen war. Auch könnte ihr Besuch der Auslöser für neue Aufregungen sein, die sie ihm gern erspart hätte. Wenn man die Sache allerdings rein aus ermittlerischer Sicht heraus betrachtete, hatte Günther Sibelius einen mehr als vernünftigen Vorschlag gemacht.
„Das ist es“, sagte Anna.
Vor den drei Kommissaren lag ein prächtiges Landhaus, umgeben von drei reetgedeckten Nebengebäuden und einer kleinen Kapelle. Es war direkt hinter den Deich gebaut worden, die Zimmer im ersten Stock würden sicherlich über einen wunderbaren Blick auf die Elbe verfügen. Ein sonniger Ort, eigentlich wie geschaffen für einen Urlaub. Doch es war ein Altersheim. Es war das Warten auf das Ende. Krankheit, Einsamkeit, Tod, wenn auch in idyllischer Umgebung.
„Am besten, Sie gehen zuerst allein hinein, Frau Greve, ich bleibe mit Weber so lange im Garten.“
Anna betrat die Halle und fragte nach dem Vater von Esther Lüdersen. Eine Frau in Schwesterntracht zeigte ihr den Weg zur Kapelle neben dem Haupthaus.
„Früher ist Herr Hinrichs nie dort hingegangen. Er hat sich sogar geweigert, an den Gottesdiensten teilzunehmen, obwohl gerade immer dann so eine harmonische Stimmung einkehrt. Seit ein paar Wochen findet man ihn allerdings beinahe täglich hier. Alte Leute werden wunderlich, sobald sie den Tod vor Augen haben.“
Anna beobachtete, wie die Schwester mit gespitzten Lippen und schief gelegtem Kopf dastand und ihren Worten nachhorchte, so als habe der Heilige Geist persönlich sie ihr eingegeben. Sie wirkte wie erstarrt. Gab es etwa einen geheimen Knopf in ihrem Rücken, der sich gerade ausgeschaltet hatte?
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