Und jeder tötet, was er liebt
stellen. Martin Kuhn sollte unbedingt eine neue Lebensperspektive eröffnet bekommen, auch um den Preis, dass sich seine Energie dann auf „ihren“ HFC richten würde. Immer noch besser, als ihn weiter zum Chef zu haben.
„Wir werden sehen. Ich wünsche den Damen noch einen wunderbaren Tag.“
Anna sah Horst Moebus nach und bemerkte erst jetzt den Rosenstrauß, der auf der Fensterbank in ihrem Büro stand. Es waren langstielige Rosen, mehr als zwei Dutzend, eine Karte war auch dabei. Hatte Weber vielleicht heute seinen Hochzeitstag?
In diesem Moment stand Antonia Schenkenberg in der offenen Tür von Annas Büro und deutete lächelnd auf den Blumenstrauß.
„Ist vorhin für Sie abgegeben worden, Anna. Ist er nicht ein Traum?“
„Wer ist ein Traum?“, wollte Weber grinsend wissen. „Herr Moebus?“
„Ich meine natürlich die roten Rosen, was sonst. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe noch viel zu tun.“
Antonia Schenkenberg ging in ihr Büro zurück und machte sich kopfschüttelnd wieder an ihre Arbeit.
Weber setzte sich Anna gegenüber, dabei schielte er nach wie vor auf die Karte, die an den Rosen angebracht war.
„Der ist tatsächlich für Sie“, stellte er verblüfft fest, während er weiter versuchte, einen Blick auf den Absender zu werfen.
„Ich kümmere mich später darum.“
„Was hat denn der hohe Besuch eben von Ihnen gewollt?“
„Von mir gar nichts. Wenn ich mich nicht irre, hat er nur das Terrain sondiert und sich einen Eindruck von Kuhn als möglichem Nachfolger von Udo Lanz verschafft.“
Weber stierte nach wie vor zur Fensterbank hinüber.
„Heute gibt es übrigens Sauerbraten. Wenn Sie sich beeilen, bekommen Sie noch etwas davon ab.“
Anna grinste in sich hinein. Endlich war es ihr gelungen, Weber wieder von ihren Privatangelegenheiten abzulenken. Als er kurz darauf das Büro verließ und in die Kantine ging, nutzte sie die Gelegenheit, um sich endlich mit ihrem mysteriösen Rosenkavalier zu beschäftigen. Sie nahm die beigefügten Zeilen ab und las: „Nicht nichts ohne dich, mein Lieb; aber nicht dasselbe.“ – Tom.
Das war eine Gedichtzeile von Erich Fried. Anna kannte sie auswendig, „Nicht nichts“ war eines von ihren Lieblingsgedichten. Sie erinnerte sich an die Zeiten, als Tom und sie sich gegenseitig aus ihren Lieblingsbüchern vorgelesen hatten. Stundenlang hatten sie, einer mit dem Kopf auf den Beinen des anderen liegend, mit dieser gemeinsamen Leidenschaft zubringen können. Anna wurde das Herz schwer. Der Himmel über der Stadt hatte sich gerade dunkel gefärbt, Wind kam auf. Die jungen Birken vor dem Haus bogen sich, so als könnten sie jeden Moment abbrechen. Gleich würde es zu regnen anfangen. Seit Tagen waren sie nun schon diesem Wechselbad aus Sonnenschein und Wärmegewittern ausgesetzt. Auf der Wetterkarte zeigte sich wie meistens nur über dem Süden von Deutschland ein beständiges Hoch. Hier, bei ihnen im Norden, war das äußerst selten der Fall — das einzige Ärgernis in dieser sonst so schönen Gegend. In Hamburg konnte man Unternehmungen im Freien niemals langfristig planen. Bei dem Gedanken an den Sommer wurde Anna bewusst, dass die Schulferien vor der Tür standen. Früher hatte ihnen die gemeinsame Urlaubsplanung stets viel Spaß gemacht. Alle vier hatten sie um den Esstisch herum gesessen, auf dem sich ein Berg von Prospekten türmte. Ihre Vorstellungen hätten unterschiedlicher nicht sein können, und doch hatten sie zum guten Schluss immer ein Reiseziel gefunden, das jedem gefiel. Wenn Toms Stimmung allerdings weiterhin so schwankend blieb, würde dieses Jahr nicht nur die Vorbereitung schwierig werden, dachte Anna sorgenvoll. Wollte sie überhaupt mit ihm verreisen?
Ein leises Klopfen an der Bürotür lenkte Anna von ihren Gedanken ab. Sie war froh, den schmerzlichen und zugleich schönen Erinnerungen entkommen zu sein, die Toms Zeilen in ihr geweckt hatten. Ulrike Homberg stand in der Tür. Sie sah ein wenig verloren aus, so als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie hereinkommen oder lieber wieder weglaufen sollte.
„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Homberg, ich werde gleich Zeit für Sie haben.“
Anna lief in die Cafeteria hinüber, um Weber und Günther Sibelius zu holen.
Von dem Bild, das sie sich von Ulrike Homberg bei ihrem ersten Besuch in der Haubachstraße gemacht hatte, war wenig übrig geblieben. Vor ihnen saß eine sehr junge, unsicher wirkende Frau.
„Ich habe mich gestern nicht gut
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