Und jeder tötet, was er liebt
wollen, Herr Sibelius“, entgegnete Alfons Lüdersen herablassend. „Aber lange hierbehalten dürfen Sie mich nicht. In unserem Land gilt ein Mensch schließlich immer noch so lange als unschuldig, bis seine Schuld erwiesen ist.“
Anna wusste, dass er recht hatte. Ein geplatztes Alibi allein reichte für eine Mordanklage nicht aus.
„Einen Augenblick.“ Günther Sibelius bedeutete Anna und Weber, mit ihm hinauszukommen.
„Ich bin dafür, dass wir Herrn Lüdersen eine weitere Übernachtung in einer unserer komfortablen Zellen gewähren“, schlug Lukas Weber vor. „Diese Erfahrung schien schon beim letzten Mal großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben.“
„Außerdem gewinnen wir Zeit“, stimmte Günther Sibelius zu. „Ich möchte wissen, wie weit die Kollegen mit der Revision vorangekommen sind, aber vor morgen früh werden wir leider wohl nichts Neues mehr erfahren.“
In der vergangenen Nacht war Tom sehr spät nach Hause gekommen. Nun saß er einsilbig mit dem Rest der Familie am Frühstückstisch. Gerade eben hatte er angekündigt, dass er den Nachmittag zu Hause arbeiten wollte, was nicht nur die Kinder freute. Anna fühlte sich geradezu erleichtert bei der Aussicht, Elisabeth heute nicht schon wieder über den Weg laufen zu müssen.
„Wie war die Reise, Tom?“
„Wie immer.“
„Habt ihr euch eigentlich schon Gedanken darüber gemacht, wo ihr diesmal in den Sommerferien hinfahren wollt?“
Ben und Paul guckten ihren Vater an.
„Hast du etwa immer noch nicht mit Mama gesprochen?“, fragte Ben.
„Worüber gesprochen?“, meinte Anna.
Ben zog die Augenbrauen hoch. „Papa sagt, du hast im Moment zu viel Arbeit, um mit uns wegzufahren. Er will mit uns deshalb Oma und Opa auf Fano besuchen.“
Tom sah sie mit undurchdringlicher Miene an. „Ich dachte mir, du könntest zwei Wochen ohne uns ganz gut vertragen.“
„Und ihr wärt mir nicht böse, wenn ich hierbleibe?“
„Quatsch, Mama, is’ doch cool, wenn du einen Mörder zur Strecke bringen musst.“
Paul legte seine Arme um ihren Hals.
„Obwohl wir in diesen Sommerferien eigentlich nach Amerika fahren wollten“, meckerte Ben. „Ihr habt uns eine Reise mit dem Wohnmobil versprochen. Es war ja klar, dass nichts daraus wird.“ Dann lenkte er ein: „Okay, Dänemark ist besser als nichts.“
„Vielleicht habe ich ja Glück, Kinder, und der Fall ist wirklich bald gelöst. Dann haben wir immer noch Zeit genug, um etwas zusammen zu unternehmen.“
Als die Jungen in ihre Zimmer gestürmt waren, wurde es still.
„Vielen Dank für die schönen Rosen.“ Sie versuchte ein Lächeln.
Tom nahm ihre Hand. „Ich habe an dich denken müssen.“
Schnell stand sie auf und fing an, den Frühstückstisch abzudecken. Als Anna mit dem Rücken zu ihm die Marmeladen in den Kühlschrank räumte, sagte sie: „Ich werde gleich eine Runde laufen. Vielleicht schaue ich danach auch noch bei Paula rein.“
„Musst du heute denn nicht ins Büro?“
„Doch, aber ich gehe etwas später.“
Statt eine Antwort zu geben, murmelte Tom etwas Unverständliches in sich hinein, dann verschwand er im Badezimmer.
Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Anna sog die würzige Luft an diesem wunderbaren Morgen ganz tief in ihre Lungen ein und schlug ein paar übermütige Haken. Sie bog in einen unbefestigten Heideweg ab, von dem aus sie in der Ferne eine Gruppe Wanderer ausmachen konnte. Als ihr wenig später zwei Frauen mit ihren herumtollenden Hunden entgegenkamen, musste sie an Henry denken. Der würde nach seinem kurzen Spaziergang mit Tom bestimmt schon wieder in seinem Korb liegen und darauf warten, dass jemand von der Familie nach Hause käme. Warum hatte sie nicht daran gedacht, ihn mitzunehmen?
Der richtige Rhythmus von Atem und Bewegung stellte sich schneller als sonst ein, leichtfüßig lief sie immer weiter. Hätte Anna ihre Zeit gestoppt, sie wäre begeistert gewesen. Heute war sie unschlagbar schnell unterwegs.
Paula öffnete die Haustür mit einem Handtuchturban um den Kopf.
„Komm rein, du bist ja total verschwitzt. Haben sie dich etwa gefeuert, oder warum sonst rennst du schon am frühen Morgen durch die Gegend?“
„Ich brauchte einfach eine Auszeit. Könntest du mich dann später mit dem Wagen nach Hause fahren?“
„Kein Problem. Und nun erzähl, wie geht es dir?“
Anna freute sich, Paula zur Freundin zu haben. Sie nahm das Leben mit einer Leichtigkeit, um die sie Anna von jeher beneidet hatte. Nachdem die Kommissarin
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