Und jeder tötet, was er liebt
Merkwürdige Person, dachte Anna. Hoffentlich war das übrige Pflegepersonal nicht ähnlich gestrickt, sonst konnten einem die Bewohner des Heims wirklich leidtun.
Sie ging in die Kapelle hinein, wo sie Wilfried Hinrichs dicht vor dem Altar auf einer Bank sitzen sah. Es war still. Er war allein. Seine Schultern hingen, und sein Blick war nach unten auf den Fußboden gerichtet. Als sie näher kam, bemerkte Anna, dass er ein Buch in seinen Händen hielt, in dem er gerade geschrieben hatte. Er schien ihre Schritte gehört zu haben, denn er drehte sich zu ihr um.
„Ich habe Sie nicht stören wollen.“
„Esthers Tod lässt mich einfach nicht los. Manchmal in der Nacht habe ich das Gefühl, dass sie zu mir spricht.“
Er ließ den goldenen Füllhalter in seine Jackentasche gleiten und erhob sich von der Bank.
„Vielleicht ist sie noch immer hier, weil ihre Seele keinen Frieden finden kann.“
„Ich habe zwei Kollegen mitgebracht, Herr Hinrichs. Wir würden uns gern noch einmal mit Ihnen unterhalten.“
Wilfried Hinrichs sah sie aufmerksam an. „Worüber denn?“
„Die Kollegen sind im Garten.“
Der alte Mann ging vor ihr her durch die Halle. Er wirkte aufrechter und kraftvoller als noch gerade eben in der Kirche. Weber und Sibelius saßen an einem runden Tisch im schattigen Teil des Gartens.
„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Herr Hinrichs“, eröffnete Günther Sibelius das Gespräch. „Wir hatten ja leider bisher keine Gelegenheit, uns kennenzulernen.“
„Ich glaube kaum, dass Sie den langen Weg gemacht haben, nur um mir zu kondolieren. Frau Greve deutete an, Sie hätten noch ein paar Fragen an mich?“
„Wir wissen, es ist nicht leicht für Sie. Aber Sie sind der einzige Mensch, den wir nach Esthers Verhältnis zu ihrem Ehemann fragen können.“
„Gar nichts wissen Sie.“
Der Gebirgsbach in seinen Pupillen war jetzt voller Eiskristalle. Noch nie zuvor hatte Anna in zwei Augen gesehen, die so viel Kälte ausstrahlten.
„Esther und Alfons waren schon lange miteinander verheiratet. Er hat den Betrieb geleitet, sogar sehr gut geleitet, und sie ist zu Hause gewesen. Wir haben uns nicht oft gesehen.“
„Haben die beiden eine glückliche Ehe geführt?“
„Ich weiß nicht, wie viele Menschen die Zeit haben, sich zu fragen, ob sie glücklich sind.“
„Herr Hinrichs“, hakte Anna nach, „wir möchten von Ihnen wissen, ob es oft Streit gegeben hat. Hat Ihre Tochter Ihnen niemals etwas erzählt?“
„Für den einen mag es gerade noch erträglich sein, wenn er von seinem Partner hintergangen wird, und für den anderen bedeutet es das Ende des gemeinsamen Weges. Wer kann schon in die Beziehung zweier Menschen hineinsehen?“
„Halten Sie Ihren Schwiegersohn für einen ehrlichen Mann?“
Wilfried Hinrichs ließ den Stock mit dem Elfenbeinknauf zwischen seinen Händen hin- und hergleiten. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet.
„Alfons ist mir immer eine Stütze gewesen. Bevor er kam, musste ich mir Sorgen um die Zukunft machen, ich hatte mich schon darauf eingerichtet, bis zu meinem Tode weiterzuarbeiten. Alfons hat mir eine große Bürde von den Schultern genommen, ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen.“
„Ihr Schwiegersohn ist in einen Betrugsskandal verwickelt.“ Lukas Weber ließ nicht locker. „Außerdem besitzt er ein Konto in der Schweiz. Jede Menge Schwarzgeld, das nicht in seinen Geschäftsbüchern auftaucht.“
Wilfried Hinrichs schwieg.
„Ihre Tochter hat vor ihrem Tod auf eine Revision des Betriebes gedrängt. Sie trug sich mit dem Gedanken, eine Stiftung ins Leben zu rufen.“
„Davon habe ich nichts gewusst.“
Wilfried Hinrichs stand auf, schließlich sagte er: „Bitte lassen Sie einem alten Mann wie mir seine Ruhe, ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen.“
Ein letztes Flimmern der Eiskristalle, dann drehte er sich um und ging mit einem kurzen Gruß in die Halle zurück. Die drei sahen ihm ratlos nach, hatte er sie doch gerade auf unnachahmliche Art und Weise auf ihre Plätze verwiesen.
Wilfried Hinrichs ging in die Kapelle zurück, mittlerweile war sie der einzige Ort, an dem er in Ruhe nachdenken konnte. Was bildeten sich diese Polizisten überhaupt ein? Hatten sie wirklich geglaubt, dass ein Mann wie er sein persönliches Scheitern vor ihnen ausbreiten würde? Und darüber hinaus auch noch über das ganze Unglück in seiner Familie sprach? Diese Leute sollten ihre Arbeit gefälligst selbst tun. Alfons
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