Und jeder tötet, was er liebt
Sie uns davon.“
„Das geht nicht so schnell.“
„Lassen Sie sich Zeit. Ich bin sicher, Herrn Lüdersen interessiert die Geschichte ebenso sehr wie uns.“
Anna beobachtete Alfons Lüdersen. Er hatte zu seinem Pokerface zurückgefunden, und doch lag eine gefährliche Spannung in der Luft.
„Ich habe Esther vor ein paar Jahren am Hauptbahnhof kennengelernt. Sie war seit langer Zeit nicht mehr dort gewesen und bestürzt über das, was sie sah. An manchen Tagen, müssen Sie wissen, stehen an die zweihundert Leute am Bahnhof herum. Esther kam mit ein paar Polizisten ins Gespräch und erkundigte sich, was die Leute hier täten. ,Sind halt Penner und Junkies‘, meinten die. Der Staat kümmert sich doch einen Scheiß um uns und private Initiativen, wie die Hamburger Tafel, sind nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Also hat sie selbst angepackt.“
„Jetzt reicht es, Sie tun gerade so, als ob der Staat zu wenig unternehmen würde. In unserem Land haben alle die gleichen Möglichkeiten, jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich.“
„Sie haben doch überhaupt keine Ahnung.“
„Genug, verlassen Sie auf der Stelle mein Haus!“
Olaf Maas blieb auf seinem Stuhl sitzen, dafür stand Weber nun auf und legte Lüdersen seine Hand auf die Schulter. Dann wandte er sich an Olaf Maas.
„Bitte kommen Sie morgen Vormittag in unser Büro, wir brauchen Ihre Aussage. Hier ist die Adresse.“
Weber kann also auch anders, vielleicht habe ich mir meine Meinung über seinen Charakter doch zu voreilig gebildet, dachte Anna.
„So, was haben wir bis jetzt?“
Weber und Anna Greve saßen einander im Büro gegenüber, die Gesprächsnotizen vor sich auf dem Schreibtisch.
„Da ist zuerst Alfons Lüdersen, der von der Entführung seiner Frau nichts wusste.“
„Das sehe ich anders.“
Weber überging ihren Einwand achselzuckend.
„Solange wir keine Beweise haben, gehe ich davon aus, dass er nichts damit zu tun hat. Dann Olaf Maas; wir schauen nach, ob wir etwas über ihn im Computer haben. Ich könnte mir vorstellen, dass er nicht ganz astrein ist. Als Nächstes müssen wir uns um den Vater von Esther Lüdersen kümmern, das dürfen wir nicht seinem Schwiegersohn überlassen.“
Er stand auf und schob seinen Stuhl unter den Schreibtisch.
„Was halten Sie von ein bisschen frischer Luft zum Feierabend, vielleicht am Hauptbahnhof?“
Sie schaltete den Computer aus.
„Gute Idee, Weber.“
Als Erstes bemerkte Anna den Müll, der auf dem Vorplatz des Ausgangs Kirchenallee in den Ecken lag. Auf den zweiten Blick sah sie, dass dieser Müll anscheinend der Hausstand einiger Menschen war. Obdachlose, deren Besitz in zwei oder drei Plastiktüten passte. Manche von ihnen standen in kleinen Gruppen herum oder saßen, von ihren Hunden umgeben, auf der Erde. Eine alte Frau auf einer Plane in der Ecke sah aus, als ob sie schliefe, aber vielleicht wollte sie auch nur noch ein wenig Kraft schöpfen für die kommende Nacht. Einfach liegen bleiben und sich von der Sonne wärmen lassen, bevor es wieder endgültig dunkel wurde. An ihr vorbei hasteten Menschen, mit Koffern beladen, zum Bahnhof, schlenderten ältere Damen nach ihrer Shoppingtour zu den Gleisen, von denen die Züge in die Vorstädte abfuhren, lärmten Jugendliche auf ihrem Weg zur nächsten Fastfood-Station.
Ein sehr junges Mädchen irrte auf dem Platz umher, sie schob einen verrosteten Einkaufswagen. Ging von einer Gruppe zur nächsten. Sprach jeden an, um nach einer meist kurzen Entgegnung weiterzuziehen. An den Füßen trug sie, trotz der Wärme, gefütterte Stiefel und sie hatte einen Wollschal um den Hals geschlungen. Ein junger Kerl kam auf sie zu und umfasste ihre Schultern.
„Verpiss dich, lass mich endlich in Ruhe“, kreischte sie.
Der Mann betatschte nach wie vor ungerührt ihren Busen und redete auf das jetzt weinende Mädchen ein. Niemand schien es zu bemerken oder ihr helfen zu wollen, auch die gerade vorübergehende Bahnpolizei nicht. Anna Greve sah eine alltägliche Bahnhofsszene. Der Mann schubste sie. „Alte Junkieschlampe“, fluchte er. „Hast sowieso Aids.“
Obwohl Anna und Weber in Zivil waren, wurden sie sofort als Polizisten identifiziert. Anna registrierte die düsteren Blicke, die ihnen auf ihrem Rundgang durch den Bahnhof begegneten.
„So funktioniert das nicht“, sagte Weber. „Ohne die Hilfe von Olaf Maas wird hier niemand mit uns sprechen.“
Es war schon ziemlich spät, als Anna die Haustür
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