Und jeder tötet, was er liebt
aufschloss.
„Ich mach noch eine Runde um den Block, Tom.“
Sie schlüpfte in ihre Laufschuhe und begab sich auf ihre Hausstrecke. Sie tat das so oft wie möglich. Anna war süchtig nach diesem Rhythmus von Bewegung und Atem, der Freiheit der Gedanken, die sich durch die körperliche Anstrengung einstellte.
Sie lief durch die menschenleeren Feldwege und dachte an ihre Freundin Paula. Paula hatte sich ihre Klagen über Tom angehört und Ratschläge zu ihren Gefühlen, seinen Bruder Jan betreffend, gegeben.
„Pipifax, du willst den Kleinen. Hör auf, drumherum zu reden, Anna. Nimm ihn dir, probier es aus. Dann wird’s dir besser gehen.“
Paula hatte leicht reden, sie war allein. Für sie war das Leben leicht. Obwohl, Paula würde in ihren Entscheidungen immer klarer sein als Anna. Ein ausgeliebtes Leben weiterzuführen wäre niemals ihre Sache. Führte Anna ein ausgeliebtes Leben?
Paula war immer bei sich, steckte voller Energie und kam fast jede Woche mit einer neuen Leidenschaft daher. Oft ging sie Anna damit auf die Nerven, aber manchmal passierte auch Überraschendes. Wie an diesem wunderbaren Abend vor gut einem Jahr: Paula hatte darauf bestanden, Tarot zu legen. Anna hatte ohne Begeisterung mitgemacht. Dreimal fischte sie sieben Karten aus dem Stapel, und immer hielt sie nur Schwerter und Stäbe in der Hand. Alle Karten standen für Veränderung und Neubeginn, das konnte kein Zufall sein. Die Karten sagten dasselbe wie ihr Herz. Sie würde ihre Zeit nicht einfach so vergehen lassen, ohne es noch einmal wissen zu wollen. Vielleicht war der Rat von Paula doch nicht so schlecht. Obwohl, ihr wäre es viel lieber, wenn Tom sich darauf besinnen würde, wieder der Tom zu sein, den sie so geliebt hatte.
Als sie zurückkam, hatte Tom es sich im Wohnzimmer bequem gemacht.
„Ich habe die Jungen ins Bett gebracht.“
Zärtlich streichelte er ihr über den Nacken. „Geh schnell duschen, dann machen wir beide es uns gemütlich.“
Er hatte eine Melone mit Parmaschinken, Erdbeeren, ein paar Lachsschnitten und Prosecco aufgefahren.
„Du hast heute bestimmt noch nicht viel gegessen.“ Lächelnd reichte er ihr den Teller hinüber.
Annas Stimme wurde weich.
„Ich kann mich nicht erinnern, wann ich von dir zuletzt so verwöhnt worden bin.“
Tom starrte sie finster an und sprang auf, als hätte ihn eine Wespe gestochen.
„Was soll der Scheiß?“
Er warf das Lachsbrötchen, von dem er gerade abgebissen hatte, durch den Raum, bis es am Rahmen des Kandinsky-Drucks hängen blieb. Dann lief er hinaus, knallte die Tür hinter sich zu und polterte die Treppen hinauf.
4
„Wir müssen genauer recherchieren, Weber. Wie sind die finanziellen Abhängigkeiten in der Familie Lüdersen?“
„Bestimmt hat es Menschen gegeben, die der Frau ihren Reichtum neideten.“
„Ist Ihnen aufgefallen, wie unterschiedlich die beiden Männer Esther Lüdersen beschrieben haben? Fast kam es mir so vor, als sprächen sie von zwei verschiedenen Frauen.“
Weber klappte seine Akte zu.
„Wir sollten uns auf die Tatsachen konzentrieren, Frau Greve.“
Es klopfte an der Tür. Olaf Maas kam zögernd herein, in seiner Hand hielt er die zerknüllte Visitenkarte von Weber.
Anna ging auf ihn zu und gab ihm die Hand.
„Hallo Herr Maas, möchten Sie einen Kaffee?“
Olaf Maas setzte sich auf einen Stuhl, so weit entfernt vom Schreibtisch wie nur möglich.
„Gern, danke. Ich komme direkt von der Arbeit, konnte mich noch nicht umziehen“, sagte er, als er den musternden Blick von Weber bemerkte.
„Wo sind Sie beschäftigt?“
„Auf dem Gemüsegroßmarkt; Kisten schleppen und so. Is’ kein toller Job, aber immerhin. Hat Esther mir besorgt. Selbstständig zu werden sei eine wichtige Sache, um von den Drogen loszukommen, hat sie gemeint.“
Auf seinem Gesicht zeigte sich der Anflug eines Lächelns. „Esther war eine sehr kluge Frau. Ich werde das Schwein finden, das ihr das angetan hat.“
„Das werden Sie nicht tun“, entgegnete Anna sanft. „Aber Sie können uns erzählen, ob Ihnen in den Tagen vor Esthers Verschwinden etwas aufgefallen ist.“
„Wann und wo haben sie Frau Lüdersen eigentlich zuletzt gesehen?“, fragte Weber.
„Am Tag vorher. Ich bin auf ’n Sprung zum Bahnhof rüber. Es war kurz vorm Ersten, da trifft man viele Leute, weil keiner mehr Kohle hat. Esther war auch da, sie redete gerade mit Walter Reimers. Mann, war das ein Gezeter.“
„Sie haben gestritten? Konnten Sie hören, worum es
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