Und jeder tötet, was er liebt
seine rechte Augenbraue hoch.
„Man kann seine Verbundenheit auf vielerlei Arten ausdrücken.“
„Sie sind ein Mann in den besten Jahren. Wollen Sie mir erzählen, dass Sex in Ihrem Leben keine Rolle mehr spielt?“
Es amüsierte Anna, dass Lüdersen gezwungen war, gerade mit ihr über dieses Thema zu sprechen.
„Es hat sich nie um ernsthafte Sachen gehandelt, Esther war die einzige Frau für mich.“
„Wusste Ihre Frau von Ihren Liebschaften?“
Alfons Lüdersens Augen verengten sich. „Ich weiß zwar nicht, was Sie das angeht“, sagte er, „aber ich glaube nicht, dass Esther sich daran gestört hat.“
Wilfried Hinrichs lebte in einer Seniorenwohnanlage, direkt an der Elbe gelegen, in einem kleinen Ort mit dem Namen Seestermühe. Anna fand den Vater von Esther Lüdersen auf einer Parkbank im ausgedehnten Garten des Anwesens. Sehr gerade saß er da, die Augen in die Ferne gerichtet. Von seiner Bank auf der Krone des Deiches hatte man einen wunderbaren Ausblick auf das gegenüberliegende Seevogelschutzgebiet der Insel Pagensand. Doch Anna kamen Zweifel, ob der alte Mann dieses Panorama, die Sonne und den sanft dahinziehenden Fluss überhaupt wahrnahm.
„Herr Hinrichs?“
Er nickte.
„Anna Greve von der Mordkommission in Hamburg. Ich habe eine traurige Nachricht für Sie. Ihre Tochter Esther ist ermordet worden.“
Die Kommissarin ließ ihm Zeit, bevor sie weitersprach.
„Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir vermuten, dass Ihre Tochter zunächst entführt wurde und dass der Mord erst einige Tage später geschah. Wann haben Sie Esther das letzte Mal gesehen?“
Ein intensiver Blick traf Anna. Ungewöhnlich klar für einen Mann in Hinrichs Alter. Seine Augen hatten die Farbe von hellblauem Wasser. Eiskaltes Wasser wie das eines Gebirgsbaches, in den man selbst an heißen Sommertagen nicht ohne Überwindung hineinspringen wollte.
„In meinem Alter muss man langsam mit sich im Reinen sein. Seit Esther auf der Welt ist, habe ich mich um sie sorgen müssen.“
Er schloss die Augen und griff sich an die Brust.
„Soll ich einen Arzt rufen?“
Wilfried Hinrichs winkte ab.
„Am Mittwoch vor zwei Wochen hat sie mich besucht und ist stundenlang dageblieben. Ich weiß nicht, was sie wirklich von mir wollte, ich habe mir auch abgewöhnt, direkt zu fragen. Esther stotterte immer herum und fühlte sich leicht in die Enge getrieben, ein seltsames Mädchen.“
„Ich frage mich, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, Ihre Tochter zu entführen. Wer waren Esthers Freunde und Bekannte?“
Wilfried Hinrichs war aufgestanden. Erst jetzt bemerkte die Kommissarin, dass der Stock mit dem elfenbeinernen Knauf in seiner Hand mehr war als das Attribut eines wohlhabenden Herrn alter Schule. Wilfried Hinrichs zog das rechte Bein nach.
„Meine Tochter hatte keine Freunde, schon als Kind ist sie viel allein gewesen. Wenn sie irgendwo eingeladen war, endete es meist in einem Fiasko. Manchmal musste das Kindermädchen dann mitten in der Nacht losfahren, um sie abzuholen. Ich war sehr erleichtert, als sie Alfons heiratete, denn Esther wäre nie in der Lage gewesen, die Firma allein zu leiten.“
Wilfried Hinrichs musterte Anna, ein scharfer Blick traf sie. Anna hatte keine Mühe, ihm standzuhalten, aber ihr war kalt geworden.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Esther entführt wurde“, sagte er bestimmt. „Es gibt keinen Grund dafür.“
„Ihre Tochter ist sehr vermögend gewesen. Hat man versucht, Sie zu erpressen, Herr Hinrichs?“
„Das haben viele probiert, aber gelungen ist es keinem.“
Jetzt wendete er sich abrupt ab, die Audienz war beendet.
„Ich werde ins Haus gehen, es ist kühl geworden.“
Anna blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen und sah ihm nach. Sie steckte sich eine Zigarette an und starrte einem Stück Treibholz hinterher, wie es seinen Weg von der Elbe zum Meer fortsetzte. Warum nur weigerte sich Wilfried Hinrichs, die Fragen, die sie ihm über seine Tochter Esther stellte, zu beantworten?
Wilfried Hinrichs sah von seinem Balkon aus Anna Greve auf der Bank an der Elbe sitzen. Eigentlich eine sympathische Frau, dachte er. Wenn sie nur etwas mehr Wert auf ihr Äußeres legen würde, wäre sie sogar eine schöne Frau. Esther war das nie gewesen. Immer hatte ihr das gewisse Etwas gefehlt und leider auch die Eleganz von Johanna, ihrer Mutter. Vielleicht war sie mehr nach den Frauen aus seiner Familie geraten. Die hatten allesamt Körper ohne
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