Und jeder tötet, was er liebt
Nummer war nur für Notfälle gedacht, und so zitterte ihre Hand, als sie das Gespräch entgegennahm.
„Anna? Hier ist Lukas Weber.“
Natürlich, er hieß ja Lukas. Ein Vorname, der eigentlich überhaupt nicht zu ihm passte, dachte Anna. Für sie war er bislang immer nur einfach Weber oder aber der Nacktmulch gewesen.
„Machen Sie einen Höflichkeitsanruf?“
„Es gibt Neuigkeiten aus Sankt Petersburg. Die Identität des Toten aus Harburg scheint geklärt, die letzte Sicherheit wird die Überprüfung seines Zahnstandes bringen. Unser Kollege vor Ort glaubt, dass es sich um einen George Raimov handelt. Dieser Raimov ist ein kleines Licht innerhalb der Petersburger Mafia gewesen.“
„Was haben die Russen in ihrer Kartei über ihn gefunden?“
„Er hat wegen Raubes und Betruges für ein paar Jahre gesessen, aber Mord war bisher nicht sein Metier. George Raimov hat sich anscheinend erst im vergangenen Winter nach Westen abgesetzt.“
„Weber, ich kann nicht weiter hier herumsitzen, es regnet sowieso die ganze Zeit. Morgen früh bin ich im Büro.“
Tom lief den feinsandigen Strand entlang, nahm auch die Dünen in hohem Tempo und blieb kurz darauf keuchend stehen. Endlich war es heraus. Er war Anna nicht mehr genug und dahintersteckte, wie er schon die ganze Zeit vermutet hatte, ein anderer Kerl. Wahrscheinlich einer, der sie anhimmelte und ihr nach dem Mund redete. Einer, für den sie die Prinzessin war, an dem sie herumkneten konnte, wie sie wollte, und der sich nicht wehrte, weil er entweder ein Weichei oder viel zu jung war. Eigentlich war er stolz auf Anna, er bewunderte ihre Zähigkeit, mit der sie wieder in ihren Job zurückgekehrt war. Aber musste sie sich deshalb gleich einen Hampelmann anschaffen? Tom war immer für sie da gewesen. Hatte ihr zuliebe stundenlang Monopoly gespielt, sich dumme Frauenfilme angesehen und so getan, als würde ihm das etwas geben. Er hatte ihre Stimmungen ausgehalten, ihre miesen Launen über sich ergehen lassen und ihre Selbstzweifel weggeredet. Und nun? Kaum lief es einmal nicht so gut zwischen ihnen, kam irgendein anderer Fußabtreter daher. Nein, er würde sich das auf keinen Fall bieten lassen. Zum Teufel mit ihr!
„Erholt sehen Sie nicht gerade aus“, war Webers Kommentar, als Anna am nächsten Morgen im Büro auftauchte.
„Mir fehlen ein paar Stunden Schlaf.“
„Und sonst alles in Ordnung?“
„Natürlich.“
Nichts war in Ordnung. Als Tom nach ihrem Gespräch Stunden später in das Haus zurückkehrte, war er ohne ein Wort im Bad verschwunden. Gegen Annas Vorschlag, bereits an diesem Abend zurückzufahren, hatte er nichts einzuwenden gehabt. Schweigsam hatten sie ihre Sachen eingepackt und das Ferienhaus auf Vordermann gebracht. Als Anna danach ins Badezimmer kam, sah sie die vielen zerknüllten Papiertaschentücher auf dem Waschtisch liegen. Was machte es Tom eigentlich so schwer, seinen Müll selbst zu entsorgen? Oder sollten die verrotzten Taschentücher ein Liebesbeweis sein, so wie eine Katze ihren Besitzern angefressene Eichhörnchen vor die Füße legte? Im Grunde hatte sie drei Kinder, aber wo war der Mann? Anna hätte schreien und Tom schütteln mögen. Um nicht auszurasten, war sie nach draußen gelaufen und auf die große Sanddüne hinter dem Haus geklettert. Der Wind hatte ihre Wut gekühlt, ihren Ekel allerdings hatte er nicht mit sich fortzutragen vermocht. Sie war eine ganze Weile dort oben hocken geblieben, den Blick auf das Meer gerichtet, und hatte gewartet, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Als Anna wiedergekommen war, hatte der Besen, mit dem Tom vorhin noch gefegt hatte, direkt vor dem Eingang gelegen. Er war in zwei Teile zerbrochen.
Während der langen Rückfahrt hatten sie kein einziges Wort gesprochen.
Elisabeth Lamprecht öffnete und war überrascht, Tom und Anna vor der Tür stehen zu sehen. „Ist etwas passiert?“
„Ich muss morgen unbedingt ins Büro“, erklärte Anna, während sie sich an ihrer Mutter vorbeischob und die Reisetasche im Flur abstellte.
„Bei uns ist alles wunderbar gelaufen“, beeilte sich Elisabeth zu sagen. „Ich kann nur immer wieder feststellen, wie lieb und pflegeleicht meine Enkel doch sind.“
Anna lächelte. „Das zu erleben ist wohl ein Privileg der Großeltern.“
Elisabeth holte eine Flasche Wein und drei Gläser aus der Küche.
„Ich fahre dich eben noch nach Haus, Mutter“, murmelte Tom.
Heute würde es kein Gespräch mehr zwischen ihnen geben, ganz gleich welcher
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