Und jeder tötet, was er liebt
Es war ein rot angestrichenes Holzhaus, das nicht sehr groß, aber mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet war, die man für ein paar angenehme Tage benötigte. Es gab zwei Schlafräume, ein Bad mit Whirlpool und eine Sauna. Auch wenn es nach dem Kalender mittlerweile Sommer war, konnte man einen Saunagang noch gut vertragen. Der Wind hier oben am Meer war stark und ziemlich kalt.
Anna hatte sich in eine Sofaecke verkrochen, ein dickes Buch vor der Nase, mit dem sie sich bereits den ganzen Tag über zu beschäftigen versucht hatte. Das Knacken des Holzes im Ofen war seit Stunden das einzige Geräusch im Zimmer gewesen. Sie zwang sich zur Konzentration, überflog Seite um Seite, verstand jedoch kein einziges Wort. Anna hatte diesen Urlaub nicht gewollt. Merkwürdig, dachte sie, vor noch gar nicht so langer Zeit hätte sie alles dafür gegeben, ein paar Tage mit Tom allein zu verbringen. Seit gestern Abend regnete es ohne Unterbrechung, wer wollte da am Strand sein. Früher hätten sie auch verregneten Tagen etwas abgewinnen können. Wo war ihr Lachen geblieben, der gemeinsame Humor, der sie schon so manche Klippe in ihrer Ehe hatte umschiffen lassen. Tom rutschte näher und legte einen Arm um Anna. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie sprang auf.
„Ich will nur schnell meine Jacke von der Terrasse holen, es regnet schon wieder.“
Als Anna zurückkam, hatte Tom einige Scheite nachgelegt und eine Decke vor dem Ofen ausgebreitet. Er lag darauf und winkte sie zu sich heran.
„Was hast du denn vor?“
„Ich dachte, wir machen es uns gemütlich.“ Er zog sie zu sich herunter, aber als er sie auf den Mund küssen wollte, erwischte er nur ihre Wange.
„Ich komme um vor Hunger.“
Anna Greve war gerade dabei, zu tun, was sie an anderen Menschen so verabscheute. Sie spielte mit verdeckten Karten und hielt den Mann, der sie liebte, hin, obwohl er im Moment kaum eine Chance besaß, ihr Herz neu zu erobern.
Beim anschließenden Essen bekam Anna keinen Bissen herunter. Beide waren froh, als sie es hinter sich gebracht hatten. Nein, so konnte und wollte sie nicht weitermachen.
„Ich kann nicht so tun, als ob alles in Ordnung wäre, Tom. Du interessierst dich nicht mehr für mich. Hörst nicht zu, bist meistens schlecht gelaunt, und verlassen kann man sich auch nicht mehr auf dich. Wie du den armen Paul neulich nach dem Turnier in der Pampa vergessen konntest ... dabei solltest du wissen, wie ängstlich er ist.“
„Tut mir leid, ich habe eben viel Arbeit zurzeit.“
„Früher hast du dich mehr bemüht. Manchmal frage ich mich, wozu das Ganze überhaupt noch gut sein soll.“
„Vor ein paar Tagen hatte ich einen ganz anderen Eindruck. Das war doch schön, oder?“
„Ficken wie die Karnickel, mit Wein abgefüllt bis zum Anschlag, findest du schön?“
„Ist zumindest ein Anfang. Im Ernst, Anna, was ist los?“
„Ich fühle mich von dir nicht mehr geliebt, ich habe Schwierigkeiten, so weiterzumachen.“
„Und das ist alles?“
„Es gibt jemanden, in dessen Nähe ich mich gut fühle.“
„Endlich ist es heraus. Sogar der größte Depp merkt, wenn ihn seine Frau nur noch begehrt, wenn sie total betrunken ist.“
„Aber er fasst sich deswegen nicht an die eigene Nase, der Depp. Kommt dir gar nicht in den Sinn, dass du mit deinem Verhalten auch etwas zu unserem Dilemma beigetragen hast?“
„Ach, was sollte hinter deiner Zickigkeit schon anderes stecken als ein Kerl. Wer ist es?“
Anna spürte die Kluft zu ihrem Mann noch größer werden. Wie hatte er sich nur so verändern können?
„Tom, wir müssen über uns sprechen.“
„Zuerst sagst du mir, wer er ist.“ Er schaute sie nachdenklich an. „Eine ernste Sache?“
„Ach Tom.“ Sie versuchte, seine Wange zu streicheln, doch jetzt war er derjenige, der sich wegdrehte.
„Ich werde eine Runde laufen, kann länger dauern.“
Wenig später hörte sie die Haustür ins Schloss fallen.
Anna saß in der Sofaecke und traktierte das Kissen mit ihren Fäusten, als sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Verärgert wischte sie sie fort. Warum konnte sie nicht einmal sachlich an die Dinge herangehen? Tom würde in Zukunft jeden Mann, mit dem sie auch nur ein Wort wechselte, mit Argusaugen beobachten. In drei Wochen war Pauls zwölfter Geburtstag, und natürlich würde auch Jan dort sein. Aber wer konnte schon wissen, wie ihr Leben in drei Wochen aussehen würde?
Ausgerechnet jetzt klingelte ihr Handy. Diese
Weitere Kostenlose Bücher