Und jeder tötet, was er liebt
Unentschieden herausgeholt hatten, lag an den wenig erfahrenen Auswechselspielern. Es war genau so, wie der Präsident Horst Moebus Sibelius und ihr gesagt hatte, es gab einfach zu wenig Alternativen zur Stammauswahl. Die englischen Wochen, mit einem Bundesligaspiel am Samstag und einem internationalen am Dienstag oder Mittwoch, hatten bereits begonnen. Nach dem Remis in Spanien hatte der geschwächte HFC das darauf folgende Bundesligaspiel verloren und stand nun im unteren Drittel der Tabelle. Anna hatte sich dieses Debakel im Fernsehen angesehen und hoffte, dass es nicht so weiterging. Andernfalls würde der HFC in der Champions League ausscheiden und wahrscheinlich auch in der Bundesliga am Ende der Saison auf keinem oberen Platz mehr stehen. Die Folge wäre, dass es keine internationalen Wettbewerbe mehr in der kommenden Saison gäbe und somit weniger Einnahmen für den Verein. Gute Spieler würden dann wahrscheinlich zu anderen Klubs wechseln. Der HFC hatte Jahre dafür benötigt, eine Mannschaft wie diese aufzubauen. Es brauchte nur etwas Pech, drei oder vier schlechte Ergebnisse in den entscheidenden Spielen, und sie würde wieder auseinanderfallen.
Mit einem kurzen Griff schaltete Anna ihr Handy aus. Sie wollte nicht gestört werden, wenn sie Alfons Lüdersen mit Esthers Brief konfrontierte. In seinem Büro hatte man ihn den ganzen Nachmittag über nicht gesehen, also fuhr sie zu ihm nach Hause in die Karl-Jacob-Straße. Ihr Weg führte sie über die Elbchaussee. Aus der Stadt kommend durchquerte sie so in wenigen Minuten alle Gegensätze, denen man in der Hamburger Lebens- und Wohnkultur begegnen konnte. Der Fischmarkt und die Hafenstraße erstreckten sich zu ihrer Linken. Die angrenzenden Wohnhäuser, teils Yuppiewohnungen, teils Asylbewerberunterkünfte, wichen einen Wimpernschlag später dem überbordenden Prunk der reichen Kaufmannspaläste. In der Elbchaussee gab es eben alles, leider aber nur nebeneinander. Wie bei Essig und Öl verschmolzen die einzelnen Lebensentwürfe nicht zu einer homogenen Masse. Nach außen hin präsentierte sich Hamburg als weltgewandte Metropole, als tolerante Stadt, in der jeder willkommen war. Man musste schon hier zu Hause sein, um zu wissen, dass dieses schöne Bild nicht der Realität entsprach.
Alfons Lüdersen öffnete nicht. Anna überlegte und wählte dann kurz entschlossen die Nummer der HFC-Geschäftsstelle. Tatsächlich traf sie ihn dort an.
„Ich stehe hier vor Ihrem Haus, Herr Lüdersen. Soll ich zum Sportverein kommen?“
„Nein, nein, ich bin gleich bei Ihnen“, erwiderte Alfons Lüdersen hastig. Er schien um jeden Preis verhindern zu wollen, dass Anna ihn beim HFC traf. Fragte sich nur, warum.
Wenig später saß die Kommissarin in Lüdersens Wohnzimmer.
„Ich habe noch etwas für Sie. Ich bin nicht dazu gekommen, es Ihnen zu schicken.“
Er reichte Anna ein kleines, in Leder gebundenes Buch, Esthers Adressbuch. Anna freute sich, dass es endlich aufgetaucht war, und steckte es in ihre Tasche.
„Olaf Maas ist tot aufgefunden worden. In seiner Wohnung fand sich auch ein an Sie adressierter Brief von Ihrer Frau. Wie erklären Sie sich das?“
„Esther und ich haben uns viele Briefe geschrieben.“
Anna gab Alfons Lüdersen die Kopie, und er begann zu lesen.
„Ach so.“ Lüdersen zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nicht, wie Herr Maas in den Besitz dieses Briefes gekommen ist, und es interessiert mich auch nicht weiter. Wir hatten die Missverständnisse zwischen uns schon längst bereinigt.“
„Ihre Frau schreibt da etwas von einer Sache, die ihr im Kopf herumgeht. Worum ist es dabei genau gegangen, und wobei hat sie Ihren Rat gebraucht?“
Lüdersen kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Das habe ich mich in der Tat auch gefragt. Leider sind wir nicht mehr dazu gekommen, uns in Ruhe zusammenzusetzen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es irgendetwas mit ihren Plänen zu tun gehabt hat.“
Anna überlegte, dann hakte sie nach.
„Aber sie hat diesen Punkt ihren wichtigsten genannt. Demnach könnte etwas sehr Persönliches dahintergesteckt haben.“
Alfons Lüdersen stand auf, um die Tür zum Garten zu schließen.
„Ich wüsste nicht, was das sein sollte. Jedenfalls haben wir uns über das Geschäftliche schnell verständigt.“
Anna Greve holte ihren Notizblock heraus.
„Und? Kam es zur Revision?“
„Das ist überflüssig gewesen. Meine Frau hat sich in geschäftlichen Angelegenheiten oftmals sehr laienhaft angestellt.
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