Und jeder tötet, was er liebt
Als es ihr kaum gelang, das Tier an der Leine mit sich fortzuziehen, schaute die Frau genauer nach. Zuerst bemerkte sie die blutige Schnauze ihres Lieblings, dann sah sie ein Paar schwere Arbeitsschuhe auf dem Boden liegen. In den Schuhen steckte eine Jeanshose. Sie traute sich nicht, den Blick an der Hose entlang weiter nach oben gleiten zu lassen, sondern rief stattdessen lieber schnell die Polizei.
Olaf Maas lehnte an einem Pfeiler der Eisenbahnbrücke, nicht weit entfernt vom Eingang des Großmarktgeländes. Seine Arme und Beine waren seltsam verdreht, wie bei einer ausgemusterten Vogelscheuche nach der Ernte. So, als besäße sein Körper keine Knochen mehr. Doch es war Blut und kein Stroh, das im Umkreis von einem halben Meter um die Leiche herum den Boden bedeckte. Der Körper von Olaf Maas, jedenfalls alle seine auf den ersten Blick sichtbaren, unbekleideten Segmente, waren von Platzwunden und Hämatomen übersät. Er schien geprügelt worden zu sein, so lange, bis er schließlich daran gestorben war. Und er roch, als hätte er vor seinem Tod noch einen Schnapsladen geplündert. Anna sah sich um. Wo war seine grüne Lederjacke geblieben, ohne die sie ihn selbst in der Hitze der letzten Wochen niemals gesehen hatte? Sie war fort. Auch seine Hosentaschen schienen durchwühlt worden zu sein.
Anna wurde das Gefühl nicht los, dass sich hier jemand alle Mühe gegeben hatte, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen. Man wollte sie offensichtlich glauben machen, dass an diesem Ort ein Überfall von Rechtsradikalen oder ein Kampf unter Obdachlosen stattgefunden hatte. In jedem Fall ein Verbrechen, das nichts mit der Identität des Opfers zu tun hatte. Doch genau das bezweifelte Anna Greve. Olaf Maas hatte etwas herausgefunden und war auf brutalste Weise zum Schweigen gebracht worden, bevor er sein Wissen hatte weitergeben können. Vielleicht hätte er nicht sterben müssen, wenn es ihr gelungen wäre, ihn an der Imbissbude vor Karstadt zu finden.
Anna überlegte, wie sie diese Vermutung würde beweisen können, dann kam ihr eine Idee.
„Kommen Sie hier allein klar? Ich werde mich inzwischen in der Wohnung von Olaf Maas umschauen.“
Günther Sibelius sah seine Kollegin aufmerksam an und nickte. „Die Spurensicherung wird auch gleich dort sein. Tun Sie nichts Unüberlegtes, Frau Greve, und schalten Sie Ihr Handy ein.“
Annas Leben, ihre gesamte Existenz, die ihr bis vor ein paar Wochen noch hoffnungsvoll erschienen war, drohte auf einmal auseinanderzubrechen. Auch wenn nichts ihr schlechtes Gewissen wegen Olaf Maas erleichtern konnte, der Mord an ihm durfte nicht unaufgeklärt bleiben.
Die Kommissarin fuhr in die Gaußstraße 5, stand nun vor dem Haus, in welchem der Tote gewohnt hatte, und drückte wahllos auf alle Klingelknöpfe. Nach einer Weile öffnete sich ein Fenster im ersten Stock, eine alte Frau lehnte sich hinaus.
„Polizei, bitte öffnen Sie die Tür.“
Die Frau kam herunter und kontrollierte Annas Dienstausweis, dann durfte sie eintreten.
„Gibt es hier einen Hausmeister? Jemanden, der einen Generalschlüssel besitzt?“
„Herr Krüger. Aber was ist denn los?“
„Wo kann ich ihn finden?“
„Kommen Sie.“
Die Alte vor ihr ging mit schwerfälligem Schritt die Treppe hinauf, immer wieder musste sie innehalten, um zu verschnaufen. Die Kommissarin hatte Mühe, geduldig hinter der Frau herzugehen. Endlich klingelte sie an einer Wohnungstür, und der Hausmeister öffnete.
Anna wartete, bis die Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen waren, dann sah sie sich um. Olaf Maas hatte in einer wahrlich armseligen Behausung gelebt. Ein kleiner Raum, Küche und Bad, schäbig und in totaler Unordnung. Schwer zu beurteilen, ob sich ihnen hier der normale Zustand darstellte oder jemand anderes vor ihr herumgewühlt hatte. Bei dem Toten waren keine Schlüssel gefunden worden, der Mörder konnte sich also vielleicht schon Zutritt zur Wohnung verschafft haben, um mögliche Spuren und Hinweise zu beseitigen. Sie mussten es trotzdem versuchen.
In der Mitte des Zimmers stand ein alter Holztisch, dessen Arbeitsfläche mit billigen, braunen Keramikplatten beklebt war. Auf diesem Monstrum, viel zu mächtig für den kleinen Raum, türmten sich Berge von Papier. Dazu mehrere gebrauchte Kaffeetassen, halb verzehrte Fastfood-Gerichte und ein von Zigarettenkippen überquellender Aschenbecher. Anna zog sich die Gummihandschuhe an und half den Kollegen, eine Papierschicht nach der anderen zu
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