Und jeder tötet, was er liebt
Gedanken wurden von lauten Stimmen jäh unterbrochen, auf dem Flur schien Hektik ausgebrochen zu sein. Er öffnete die Bürotür und sah hinaus. Mehrere Uniformierte redeten aufgeregt und so schnell durcheinander, dass er Mühe hatte, zu verstehen, was sie sagten. Die wenigen Worte, die er dabei aufschnappte, gefielen ihm gar nicht. Endlich kam Michael Antonowich zurück.
„Holger Maiwald ist verschwunden!“
„Was?“
„Seine Zelle ist leer.“
Gemeinsam liefen sie in den Zellentrakt und begannen, den kleinen Raum zu untersuchen. Wenn hier tatsächlich ein Kampf stattgefunden hatte, mussten die Täter danach noch genug Zeit zum Beseitigen der Spuren gehabt haben. Auf jeden Fall war es unmöglich, aus dieser Zelle allein herauszukommen, eine Person von außen musste diesen Ausbruch organisiert haben. Jemand, der nicht wollte, dass Maiwald sein Wissen an die Polizei weitergab. Wer außer Gregor Leskov käme dafür sonst noch in Frage? Für einen Mann wie ihn gab es keine Gefängnismauern. Leskovs Einfluss reichte weit, mit Sicherheit standen auch Polizisten und Gefängniswärter auf seinem Gehaltszettel.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, rief Lukas Weber beim LKA in Hamburg an.
„An unserer Theorie scheint doch etwas dran zu sein, Anna.“ Er räusperte sich. „Ursprünglich war es ja Ihre Theorie. Anscheinend lagen Sie mit Ihrem Instinkt richtig. Maiwald ist aus der Haft spurlos verschwunden. Ich komme nach Hamburg zurück, hier gibt es nichts mehr für mich zu tun. Michael Antonowich bezweifelt, dass Maiwald wieder in Russland auftauchen wird. Entweder hat er sich in einen Winkel der Welt abgesetzt, wo weder russische noch deutsche Behörden nach ihm fahnden können, oder ...“
„Oder Leskov hat ihn beseitigt“, vollendete Anna Greve den Satz. „Ich habe auch schlechte Nachrichten, Weber. Olaf Maas ist ermordet worden. In seiner Wohnung habe ich die Kopie eines Briefes von Esther Lüdersen an ihren Mann gefunden. Wir müssen an diesen Lüdersen heran, Weber.“
„Bitte unternehmen Sie nichts auf eigene Faust, bis ich zurück bin.“
Nun waren sie wieder genau dort, wo sie begonnen hatten. Die einzelnen Teile des Puzzles hatten gerade angefangen, sich zu einem Bild zusammenzufügen, von dem sich allerdings noch nichts beweisen ließ. Es war, als ob ein Fluch auf diesem Fall läge. Jeder, der zu dessen Aufklärung beitragen konnte, war verschwunden oder teilte mittlerweile das gleiche Schicksal wie Esther Lüdersen. Anna ertappte sich dabei, dass sie noch immer den Hörer an ihr Ohr gepresst hielt, dabei hatte Weber schon lange aufgelegt. Sie tat es ihm nach, als Günther Sibelius hereinkam. Er reichte Anna einen ersten Bericht aus der Gerichtsmedizin herüber.
Olaf Maas war durch einen Schädelbruch ums Leben gekommen. Darüber hinaus gab es zahlreiche ernste Verletzungen, die durch das Schlagen mit einem harten, stumpfen Gegenstand entstanden waren, einer Waffe ohne Kanten.
„Vielleicht hat der Täter Olaf Maas einen Deal vorschlagen wollen, damit er den Mund hält“, überlegte Anna. „Als das nicht klappte, hat er die Kontrolle verloren. Sich den nächstbesten Gegenstand gegriffen, einen auf dem Boden liegenden Knüppel zum Beispiel, und damit auf das Opfer eingeprügelt.“
„Für einen Knüppel sind die Verletzungen viel zu heftig gewesen. Allein der Schlag gegen den Kopf des Opfers hat seinen Schädel zum Platzen gebracht wie eine reife Melone.“
„Also schließen Sie einen Mord im Affekt aus?“
„Ich glaube eher, dass die Sache geplant war. Der Täter hat die Gewohnheiten von Maas ausgekundschaftet, bis er den geeigneten Ort und Zeitpunkt gefunden hatte. Die Gegend um den Großmarkt ist ein idealer Platz für einen Mord, niemand begibt sich in der Nacht in diese gottverlassene Gegend.“
„Hier, das habe ich in der Wohnung von Olaf Maas gefunden.“ Anna gab Sibelius den Brief von Esther Lüdersen. „Ich habe Alfons Lüdersen bereits damit konfrontiert.“
„Haben Sie schon mit Martin Kuhn gesprochen?“
„Noch nicht, ich wollte mich zuerst mit Ihnen beraten. Das Verhältnis zwischen dem Chef und mir ist ja zurzeit alles andere als entspannt.“
„Trotzdem dürfen wir ihn nicht übergehen.“
Es kam, wie Anna befürchtet hatte. Kuhn hielt ihren Verdacht gegen Alfons Lüdersen für eine unausgegorene Idee und weigerte sich, die notwendigen Papiere zu besorgen. Ja, er verbot ihnen sogar, diese Spur weiter zu verfolgen mit der Begründung, sie würden damit kostbare
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